Die langsamen Entwicklungen im französischen Arbeitsmarkt

Prekär auch ohne Hartz

Der französische Arbeitsmarkt gilt Ökonomen als unflexibel und träge. Seit den neunziger Jahren scheitern Regierungen mit ihren Reformvorhaben an den Protesten der Bevölkerung.

Die Empörung ist groß, öffentlichen Plätze werden von Demonstranten besetzt, der Präsident ist verzweifelt. Es wirkt schon fast wie ein Ritual: Kaum hat die Regierung in Paris eine Reform des Arbeitsmarktes verkündet, eskalieren die Proteste. Die jüngsten Unruhen begannen im März, als Präsident François Hollande seine Reformpläne für das französische Arbeitsrecht präsentierte.
In Anlehnung an eine dänische Arbeitsmarktreform aus den neunziger Jahren hatte er dabei von einem »Flexicurity-Modell à la française« gesprochen. Demnach sollen Unternehmern künftig Arbeitnehmer einfacher einstellen und vor allem entlassen können. Betriebsbedingte Kündigungen sollen schon möglich sein, wenn der Umsatz eines Unternehmens innerhalb eines Jahres sinkt. Zusätzlich will Präsident Hollande den Unternehmern noch den Wunsch erfüllen, Abfindungen im Kündigungsfall zu begrenzen.
Es geht also um zentrale Punkte des französischen Arbeitsrechts: um eine Abkehr vom Kündigungsschutz und der 35-Stunden-Woche. Hiervor waren einst die konservativen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy zurückgeschreckt.
Der vehemente landesweite Widerstand, auf den dieses Vorhaben nun trifft, lässt vermuten, dass es Hollande ähnlich ergehen könnte wie seinen Vorgängern. Vor zehn Jahre zog der damalige Premierminister Dominique de Villepin angesichts der wütende Proteste seinen Reformentwurf »Contract Premier Emploi« zurück. Wiederum ein Jahrzehnt zuvor hatte Alain Juppé auf den heftigen Widerstand gegen seine Reformvorhaben mit Neuwahlen reagiert, die er prompt verlor.
Den Protesten gemeinsam war, dass sie von Jugendlichen getragen wurden. Vor allem Schüler, Studierende und junge Arbeitslose gingen auf die Straße, vor deren Wut bislang jede Regierung kapitulierte. Seitdem gilt das Land vor allem östlich des Rheins als reformunfähig und als quasi hoffnungsloser Fall. Anstatt wie mit der Agenda 2010 und Hartz IV den Arbeitsmarkt grundlegend aufzumischen, beharren die Franzosen nach Meinung vieler deutscher Kommentatoren auf längst antiquierten Standards, wie sie vielleicht einmal in der Epoche vor der Globalisierung galten.
Dabei hat sich der französische Arbeitsmarkt durchaus stark und auch zum Nachteil der Beschäftigten verändert, wenn auch in kleinen Schritten. So war noch Anfang der achtziger Jahre die Hälfte aller Neueinstellungen mit unbefristeten Verträgen ausgestattet, wie man den Daten des staatlichen Statistikamts INSEE entnehmen kann. Rund drei Jahrzehnte später sind es noch knapp fünf Prozent. Zugleich nahm die Jobrotation, also die Zahl von Neueinstellungen im Verhältnis zu der von Entlassungen, rapide zu. Grund dafür sind vor allem die kürzeren Laufzeiten neuer Arbeitsverträge. Die Zahl jener, die nach Ablauf der Befristung eine dauerhafte Anstellung erhielten, geht hingegen kontinuierlich zurück.
Ursprünglich wurden die befristeten Verträge damit begründet, dass sie Unternehmern die Angst vor Einstellungen nehmen und Berufsanfänger den Einstieg erleichtern würden. Doch solche »Trampolineffekte«, wenn es sie denn je gegeben haben sollte, sind längst vorbei. Stattdessen bleiben die Prekären unter sich. Rund 86 Prozent aller Neueinstellungen erhalten befristete Verträge, die oft gerade mal fünf Wochen dauern. Hingegen besitzen rund 90 Prozent der Beschäftigten eine unbefristete Anstellung, die relativ weitgehend vor Kündigung geschützt ist.
Die französische Regierung versucht zwar immer wieder, mit verschiedenen Maßnahmen das jugendliche Prekariat aufzufangen. »Frankreich muss auf die Jugend hören«, sagte Premierminister Manuel Valls Anfang April nach Gesprächen mit Vertretern von Schüler- und Studentengewerkschaften und versprach ihnen zusätzlich eine halbe Milliarde Euro: Stipendien sollen erhöht und bis zu vier Monate nach Abschluss bezahlt werden. Zudem will die Regierung die Altersgrenze für den Bezug des Mindesteinkommens von 25 auf 18 Jahre senken.
An der grundsätzlichen Misere wird dies aber wenig ändern. Wer einen unbefristeten Job ergattert hat, wird ihn nicht mehr so schnell verlieren. Wer jung und ohne Berufserfahrung ist, hat kaum Chancen, dem prekären Dasein zu entkommen.
Die Regierung von Hollande will diesen dualen Arbeitsmarkt wie seine Vorgänger vornehmlich dadurch vereinheitlichen, dass die prekären Bedingungen auf alle Beschäftigten übertragen werden. Nichts anderes bedeutet der Plan, die Entscheidung über Arbeitszeiten und Beschäftigungsverhältnisse auf die betriebliche Ebene zu übertragen.
Damit macht sich die Regierung von zwei Seiten angreifbar. Die jungen Prekären protestieren gegen die Reform, weil damit bislang weitgehend regulierte Bereiche flexibilisiert würden. Sie raubt ihnen also die Hoffnung, dass sich ihre Lage irgendwann verbessern könnte. Die Gewerkschaften laufen Sturm, weil sie die bisherigen Standards verteidigen wollen.
Für Hollande könnte es ein Gegner zu viel sein. Zwar sind die französischen Gewerkschaften weitaus schwächer als ihre Pendants in Deutschland. Ihr Organisationsgrad liegt bei gerade mal acht Prozent, in Deutschland ist er mehr als doppelt so hoch. Dennoch wird in Frankreich weit häufiger gestreikt als diesseits des Rheins.
Arbeitskonflikte werden in Frankreich oft sehr heftig ausgetragen. Streiks dürfen in Deutschland nur von den Gewerkschaften ausgerufen werden und gelten als letztes Mittel. Entsprechend wenig wird auf sie in den auf Konsens angelegten Tarifauseinandersetzungen zurückgegriffen. In Frankreich existiert hingegen ein individuelles Streikrecht und Arbeitsniederlegungen werden als eine probate Methode in politischen Konflikten angesehen. Entsprechend gibt es regelmäßig landesweite Proteste, vor allem im Verkehrssektor und im Erziehungswesen. Und so kommt es, dass die acht gewerkschaftlichen Dachverbände zwar nur rund zwei Millionen Mitglieder haben, sich aber häufig wesentlich mehr Menschen an ihren Aktionen beteiligen. Das individuelle Streikrecht fördert eine Protestkultur, die eine eigene Dynamik auch ohne Gewerkschaften gewinnt und deren Formen oftmals militant erscheinen. Fabrikbesetzungen oder gewalttätige Auseinandersetzungen sind nicht eben selten.
Die Entschlossenheit, mit der Arbeitskämpfe geführt werden, täuscht aber auch über deren eigentliche politische Reichweite hinweg. Tatsächlich gelang es den Protestbewegungen zwar, punktuell Reformvorhaben zu verhindern. Anschließend fallen sie allerdings regelmäßig wieder in sich zusammen, ohne eine weitere politische Perspektive zu entwickeln. So verharrt Frankreich weiter im Status quo, der regelmäßig von kurzen, aber heftigen Protesten unterbrochen wird. Mittlerweile gerät die französische Regierung jedoch immer mehr unter Druck. Seit 2008 stagniert die Wirtschaft. Die Staatsverschuldung nähert sich langsam der Schwelle von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Arbeitslosigkeit erreicht Rekordwerte. Wie es scheint, werden auch Hollandes Reformpläne daran nicht viel ändern können.