Eine Netzkampagne thematisiert sexuelle Gewalt in der Ukraine

Keine Angst zu sprechen

Nachdem die Ukrainerin Anastasija Melnitschenko auf Facebook offen über sexuelle Gewalt geschrieben hatte, folgte schnell eine Flut von weiteren Erfahrungsberichten.

Angefangen hat es mit einem Hashtag: »Ich will, dass heute wir Frauen sprechen. Dass wir heute über Gewalt sprechen, die die meisten von uns erlebt haben. Ich will mich nicht rechtfertigen, weil ich am hellichten Tag in kurzen Shorts unterwegs war und begrapscht worden bin. Denn wir müssen uns nicht rechtfertigen. Wir sind nicht schuld, schuld ist immer der Gewalttäter. Ich habe keine Angst zu sprechen. Und ich fühle mich nicht schuldig.«
Anfang Juli beschloss die Ukrainerin Anastasija Melnitschenko, das gängige Schweigen über sexualisierte Gewalt zu überwinden und legte auf Facebook dar, welchen übergriffigen Verhaltensweisen von Erwachsenen sie seit dem Kindesalter ausgesetzt war. Das Schema dürfte allen bekannt sein. Ein Verwandter hat gerne ein kleines Mädchen auf seinem Schoß zu sitzen. Mit zunehmendem Alter wächst sein Interesse und er fängt an, die heranwachsende junge Frau auf den Mund zu küssen. »Ich bin weggelaufen, was er unhöflich nannte«, schreibt die ehemalige Journalistin, die seit zwei Jahren eine Organisation leitet, die psychologische Hilfe für Menschen aus den Kriegsgebieten im Donbass anbietet. Sie forderte auch andere Frauen auf, ihre Geschichten offenzulegen. Die ließen nicht lange auf sich warten. Nur die allerschlimmsten Erfahrungsberichte kamen bei Melnitschenko als persönliche Mitteilung an. Was auf Ukrainisch begann, setzte sich mit unzähligen Beiträgen im russischsprachigen Bereich von Facebook fort und ist längst auch auf Englisch zu finden.
Es geht bei der Aktion um mehr als um häusliche sexuelle Gewalt oder die alltägliche Angst, im Dunkeln den Weg durch fast menschenleere Schlafstädte zu nehmen. Frauen jeden Alters seien, egal an welchem Ort, eine Art Freiwild, das betatscht, begrapscht und vergewaltigt werden darf. Ein sexuelles Objekt sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum. Nicht allein die Flut an persönlichen Offenbarungen im Netz führte bei unbedarften Lesern anfangs zu Verwunderung und Betroffenheit über das weit unterschätzte Ausmaß an Gewalterfahrungen, sondern auch der Umstand, dass sich unvermittelt Frauen – und wenige Männer – aus dem eigenen Facebook-Freundeskreis zu Wort gemeldet hatten.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis erste verharmlosende und sogar hämische Kommentare auftauchten – sowohl von Männern als auch von Frauen. »Selbst schuld« und der Vorwurf der Selbstviktimisierung und Wichtigtuerei gehören noch zu den gemäßigten Reaktionen. Medien ließen Psychologen zu Wort kommen, die nur allzu gern ihre Kritik an der Aktion mit dem Verweis verbanden, dass eine Veröffentlichung traumatisierender persönlicher Erfahrungen einen erneuten Schock auslösen könnte und daher zu vermeiden sei. Nur professioneller Rat könne hier Abhilfe schaffen. Mit ihrer Abwehrhaltung treffen diese Psychologen ungewollt den Kern des Problems, dass nämlich eine öffentliche Thematisierung von sexueller Gewalt insbesondere durch Betroffene einen Tabubruch darstellt und angeblich letztlich nur Schaden anrichtet. Eine gesellschaftliche Debatte soll offenbar verhindert werden.
In diesem Punkt gleichen sich Russland, Belarus und die Ukraine, ja in allen postsowjetischen Ländern verhält es sich ähnlich. Gesellschaftliche Probleme werden zu Privatangelegenheiten deklariert, von Gewalt Betroffene sind auf sich allein gestellt, nur wenige brechen verfestigte Gender-Stereotype auf und selbst professionelle Hilfe durch Psychologen stellt beileibe keine Selbstverständlichkeit dar. Frauennotrufe existieren zwar, können aber zum einen den Beratungsbedarf nicht decken, zum anderen ist zur Veränderung der Verhältnisse ein Bewusstsein dafür nötig, dass es sich bei sexueller Gewalt um ein die ganze Gesellschaft umfassendes und prägendes Phänomen handelt.
Darauf weisen Feministinnen seit langem hin. »Ich denke, dass der durch die Aktion in Gang gesetzte Prozess sich nicht mehr zurückdrehen lässt oder einfach in Vergessenheit geraten kann«, sagte Anastasija Chodyrewa vom Krisenzentrum für Frauen in St. Petersburg der Jungle World. »Es handelt sich um dokumentierte Aussagen über nicht nur von Einzelpersonen verübte Gewalt, vielmehr geht sie von der Gesellschaft aus, die keine Lösungsansätze für systemimmanente Probleme bietet. Deshalb beschuldigt sie die Betroffenen, wertet ihre Erfahrungen ab, ignoriert sie.« Zumindest diese Ignoranz hat Melnitschenko erschüttert.
In der liberalen russischen Wochenzeitschrift Ogonjok, die zum Verlagshaus Kommersant gehört, gab es jüngst einen Hetzartikel als Antwort auf die Facebook-Aktion. In der Ukraine hat Facebook den Beitrag der Initiatorin wegen zahlreicher Beschwerden orthodox Gläubiger mittlerweile blockiert.