Sarah Washington und Ralf Wendt im Gespräch über das internationale Radiokunstfestival »Radio Revolten«

Medium des Augenblicks

Das internationale Radiokunstfestival »Radio Revolten« findet dieses Jahr vom 1. bis 30. Oktober in Halle an der Saale statt. Kuratiert wird es unter anderem von der Künstlerin Sarah Washington, die zu den Gründungsmitgliedern der Radiostation Resonance FM in London gehört, und Ralf Wendt, der bei Radio Corax das Performative mit dem Medium Radio verbindet.

Sarah Washington, Ralf Wendt, Sie arbeiten beide als Radiokünstler. Wie sind Sie zum Radio gekommen, was bedeutet das Medium Rundfunk für Sie?
Sarah Washington: Meine Faszination für das Radio kommt noch aus der Kindheit. Als ich entweder Amateurradiomachern vom anderen Ende der Welt zuhören konnte, oder es mir mit einem Transistorradio unter der Bettdecke gemütlich machte und Radio hörte – mit Rauschen. Die Kommunikation über große Entfernungen hinweg hatte etwas Magisches. Erzählungen von englischen Piratenradiosendern haben mich auch sehr beeindruckt.
Ralf Wendt: Mein Weg zum Radio war etwas anders: Anfang der neunziger Jahre war eine recht anarchische Zeit in Halle an der Saale – nicht nur in Halle, im gesamten Osten –, und so entstand die Idee, ein Radio experimentellen Charakters zu machen. Es gründete sich dann eine Initiative, aus der das Radio Corax hervorgegangen ist. Das war ein bunter Haufen von Umweltschützern über Reste der radikalen Linken bis zu richtigen ­Radiofreaks. Dass sich solche Leute zusammenfanden, hatte viel mit den politischen und kulturellen Umbrüchen der Zeit zu tun. Man schaute in den Westen, was es dort an freien Radios gab – wobei wir auch fest­stellen mussten, dass diese Projekte in der Regel nie frei von Zwängen waren. Aber wir orientierten uns an der Idee der freien Radios. Es gab ­bereits vor der Wende ein paar Piratenradioaktionen. Ich arbeitete ­nebenher beim MDR, um ein wenig Geld zu verdienen, und so wusste ich, wie es möglich sein könnte, einen UKW-Sendeplatz zu bekommen.
Gastgeber des Radio-Revolten-Festivals ist das in Halle an der Saale ansässige Radio Corax. Wie lange gibt es Radio Corax schon?
Wendt: Die Idee für Radio Corax gab es seit Anfang der Neunziger, den Verein seit 1993 und auf Sendung sind wir im Jahr 2000 gegangen. Das war schon ein Experiment, denn wir wollten auch Stimmen ins Radio bringen, die man vielleicht sonst nicht hört. Unser Anspruch war, nicht nur lokale Informationen zu bringen, nicht nur ein Stadtradio zu machen, sondern eigene politische und künstlerische Positionen zu entwickeln. Seit 2000 sind wir ein Vollformat, das bedeutet, wir senden 24 Stunden am Tag auf UKW.
Sarah Washington, Sie haben in London die Radiostation Resonance FM gegründet. Welches Konzept verfolgen Sie?
Washington: Resonance ist ein von Künstlern betriebenes Radio, das seit 2002 auf Sendung ist. Es ist uns gelungen, das Projekt als feste Größe der Kulturszene zu etablieren. Viele Musiker und Künstler haben ganz unterschiedliche Sendungen pro­duziert und so Resonance FM unter Kunst- und Radioliebhabern zu einiger Bekanntheit verholfen.
Die Geschichte der freien Radios ist von Land zu Land, auch von Re­gion zu Region unterschiedlich. Welche Erfahrungen haben Sie mit freien Radios gemacht? Was haben die freien Radios derzeit für eine Funk­tion?
Washington: Ich habe über die Jahre einige freie und selbstorganisierte Radios in Deutschland, Österreich und Ungarn besucht, auch einige Campus-Radios in Portugal, Frankreich, Belgien, den USA und Kanada. Zumeist war der Besuch mit einem künstlerischen Projekt verbunden, aber ich wollte natürlich auch wissen, wie diese Radios funktionieren, denn jedes hat eine ganz eigene Geschichte, jedes einen eigenen Charakter. Vieles hängt von den jeweiligen Interessenbereichen, von den politischen Gegebenheiten vor Ort und natürlich vor allem von den Leuten ab, die mit Leidenschaft Radio machen.
Wendt: Die freien Radios haben sich in Deutschland unterschiedlich entwickelt. Einige Radiogründungen in Ostdeutschland waren eine Reaktion auf die Abschaltung des DDR-Jugendradios DT64. Der Sender hatte eine wilde Phase und mit der Abschaltung gab es die Befürchtung, dass man im öffentlich-rechtlichen Hörfunk keine Punkbands mehr hören und alles sehr bieder werden könnte. Zum anderen Teil kamen die Radiomacher, wie in Halle, aus einer gesellschaftskritischen Bewegung. Im Westen ­entstanden einige freie Radiosender auch aus politischen Zusammen­hängen wie der Antiatomkraftbewegung. Das Radio Dreyeckland in Freiburg wurde als erstes Projekt überhaupt von einem Piratensender zu einem lizenzierten freien Radio. Ein bisschen anders war dann das FSK in Hamburg, das unser Schwester­radio ist und immer auch einen gesellschaftlichen Anspruch hatte, das hat uns gut gefallen.
Das Programm von »Radio Revolten« ist vielfältig und geht weit dar­über hinaus, was man klassischerweise mit Radio verbinden würde. Worauf haben Sie als Kuratoren geachtet?
Wendt: Es wird eine Festivalfrequenz geben, auf 99.3 MHz in Halle und auf MW 1575 kHz überregional, die einen Monat läuft und 24 Stunden am Tag etwas macht, das unserer Vorstellung eines Idealradios vielleicht nahekommt. Dann wird es Ausstellungen geben, die Installationen werden zu sehen und zu hören sein; Live-Performances finden statt, auch im öffent­lichen Raum. Dann gibt es den historischen Teil im Stadtmuseum – es ist wirklich ein großes Festival.
Washington: 70 Künstler aus 17 Ländern werden zeitgenössische Radiokunst an verschiedenen Orten der Stadt zeigen. 35 Radiosender auf der ganzen Welt werden Teile des Programms übertragen. Ich habe vor allem Künstler für das Perfomance-Programm ausgewählt, auch weil ich Formate, die mit Live-Sendungen ­experimentieren, sehr faszinierend und produktiv finde. Der entscheidende Unterschied zu anderen Live-Performances ist, dass die Radio­hörer keinen Moment verpassen.
Die Performances in Halle entstehen vor einem Publikum und arbeiten sowohl mit visuellen wie akustischen Momenten, aber egal, ob man im Publikum oder per Radio oder Internet dabei ist, für alle entsteht die Performance für den Moment. Ich werde außerdem das Radio-Revolten-Radio mitmachen, was so etwas wie das Herzstück des Festivals ist.
Wendt: Ich wollte, dass auch Leute mit einem politischen Blick auf das Radio zum Festival kommen. Gleichzeitig wollte ich auch künstlerisch ­radikale Positionen einbeziehen, die nicht auf klassische Radioformate setzen.
Bei »Radio Revolten« geht es um Radiokunst. Wie ist das Verhältnis von Radio und Kunst? Können die freien Radios – gerade in der prekären Lage, in der sie sich oft befinden – einem experimentellen Anspruch gerecht werden?
Washington: Radio ist als Medium besonders geeignet für Kunst, weil es eine eigene Zeitlichkeit, Augenblicklichkeit, die sogenannte Liveness hat und daraus eine gewisse Lebendigkeit bezieht. Wenn man live sendet, befreit man sich von Beschränkungen und geht auch das Risiko ein, dass Fehler passieren.
Wendt: Man muss in Frage stellen, ob Radio nur ein Konsumprodukt ist. Man muss es als Kommunikationsformat begreifen, das eigenes ästhe­tisches Potential hat, das sich der Warenförmigkeit entziehen kann. Man kann es auch für die Etabilierung einer Gegenöffentlichkeit nutzen. Ob das gelingt und dann auch relevant sein kann, muss man immer wieder diskutieren. Wir wollen offen sein: für Produzenten und gleichzeitig auch relevant für eine bestimmte Öffentlichkeit.
Der Hörfunk ist im Grunde das erste Massenmedium des 20. Jahr­hunderts, die Ausstattung der Haushalte mit Rundfunkempfängern ist eine historische Zäsur, die möglicherweise wichtiger war als die darauffolgende Verbreitung privater Fernsehgeräte und Computer. Die Funk­tion als Leitmedium hat der Hörfunk aber verloren. Wie ist das Radio heute in den Massenmedien generell einzuordnen?
Washington: Lustigerweise höre ich immer wieder von Studien, die wohl zeigen können, dass das Radio immer noch eines der meistgenutzten Medien ist. Man hört es ja überall, wohin man geht. Radio ist wie ein Begleiter, den man anschalten kann, um sich in dieser Welt nicht allein zu fühlen. Natürlich haben auch andere Medien diese Funktion übernommen. Radio erfordert keine Inaktivität, wie es das Fernsehen tut, oder verschlimmert Ängste, wie es die sozialen Medien tun. Selbst wenn mich der Inhalt ­wütend macht, haben doch die Wärme der menschlichen Stimme, die ich höre, und der Bewusstseinsstrom, dem ich folge, etwas sehr Beruhigendes.
Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger haben einst Vorschläge für eine politische Nutzung des ­Mediums Radio gemacht. Sind sie heute noch aktuell?
Wendt: Brecht hatte ja keine ausformulierte Radiotheorie, das waren ein paar Gedanken in mehreren Aufsätzen, mehr nicht. Er formulierte das Gedankenspiel, dass Hörer zu Sendern werden. Auch Walter Benjamin fragte nach den Möglichkeiten des Hörfunks. Das greift Enzensberger später wieder auf und das spielt auch heute noch eine Rolle: Es geht dabei um die Frage, was man in einem sozialen Sinne mit den technischen und künstlerischen Möglichkeiten des Radios machen kann. Während der »Radio Revolten« wird es auch eine Ausstellung im Stadtmuseum geben, die sich mit den emanzipatorischen Versuchen der Aneignung des Mediums Hörfunk beschäftigt. Das hat auch einen lokalen Bezug, in Halle gab es beispielsweise zur Zeit der Weimarer Republik einen Arbeiterrundfunk. Auch unter der Diktatur des Nationalsozialismus wurde gegen die Wehrmacht gesendet. ­Radio ist ja schwerer zu zensieren: Eine Zeitung kann man verbieten, aber eine sendende Frequenz ist empfangbar.
Washington: In Zeiten von Desinformation, Vernebelung und politischem Durcheinander ist es sehr wichtig, die Fähigkeit zu besitzen, eigene Medien unter eigener Kontrolle zu ­haben. Man kann sehr einfach einen kleinen Radiotransmitter bauen, aber es gibt keine Kontrolle über das Internet oder die Infrastruktur der sonstigen Telekommunikation. Was passiert, wenn es zu einer größeren Störung kommt oder der Zugang beschränkt wird? Natürlich ist keine Technik unfehlbar, aber die eine ist robuster als andere.
Ein Smartphone hat heute im Grunde alle technischen Voraussetzungen einer Sende- und Empfängerstation. Zurzeit gibt es auch eine Debatte über die Abschaltung der Ultrakurzwelle (UKW) und die Digitalisierung des Radios. Was passiert da gerade und wie verhält sich das zeitgenössische Radio zu diesen technischen Veränderungen?
Wendt: In Europa geht die Tendenz zum digitalen Radio. Das ist vor allem erstmal teurer. Wir plädieren für einen Parallelbetrieb. Und man muss langfristig überlegen, was man mit der UKW macht. Wir müssen die Digitalisierung kritisch betrachten, weil mit der neuen Technik eben auch ein sozialer Ausschluss einhergeht.
Washington: Die Digitalisierung hat das Radio über den traditionellen Bereich hinaus erweitert, die Entwicklung verändert und auch die Inhalte beeinflusst. Es bilden sich im globalen Maßstab neue Nischenradios, die alle Formen von Kunst und politischen Aktivitäten umfassen. Die heutigen Gadgets sind mehr als Spielzeug, sie können gute Werkzeuge sein. An sich ist alles möglich, unsere Vorstellungskraft ist unsere einzige Grenze.
Was ist die Zukunft des Radios?
Wendt: Das ist auch eine Frage der Zukunft der Gesellschaft. Aber selbst innerhalb der Wirtschaftsordnung, die derzeit existiert, kann man für die Attraktivität eines anderen Miteinanders Radio machen. Die Zukunft des Radios besteht in der Schaffung neuer Kommunikationsformen, die nicht warenförmig sind. Das kann man im Radio vielleicht punktuell herstellen. Das ist dann aber keine Werbung für das Radio, sondern für eine schönere Gesellschaft.
Washington: Die Zukunft des Radios bist Du.