Die Konservativen in den USA sind auch nicht mehr das, was sie mal waren

Aufstand gegen den Anstand

Konservatismus war gestern. Donald Trump konnte die Wahl nur gewinnen, weil die meisten US-amerika­nischen Rechten sich von traditionellen Werten losgesagt haben. Ähnliches ist auch in Europa möglich.

Vielleicht bleibt der Schaden ja überschaubar, doch bereits jetzt ist klar, dass das kommende Jahr entscheidend für die Zukunft der bürgerlichen Demokratie sein dürfte. Gewinnt Marine Le Pen die Präsidentschafswahl in Frankreich, wäre das mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende der EU, zumindest in ihrer bisherigen Form. Angesichts der Schwäche des sozialdemokratischen Parti Socialiste wird ihr Gegner in der Stichwahl wohl ein rechtskatholischer Marktextremist sein: François Fillon, der Ted Cruz Frankreichs, der seine Kandidatur einer Vorwahl nach US-amerikanischem Modell verdankt.
Wie in den USA kommt auch in Frankreich und anderen europäischen Staaten der Druck nach rechts von der Basis, man kann froh sein, dass es in der CDU/CSU keine Vorwahlen gibt. Doch während nun allerorten über tatsächliche und vermeintliche Fehler der Linken und Liberalen debattiert wird, stellt kaum jemand die Frage nach der Verantwortung der Konservativen. Gängigen politologischen Theorien zufolge ist es ja die Aufgabe der »Volksparteien«, radikale Positionen ihrer Klientel durch Integration einzuhegen. Es ist offenkundig, dass dies bei den Konservativen nicht mehr funktioniert, ihre großen Parteien passen sich mehr oder minder eifrig der populistischen und extremen Rechten an.
Donald Trump hat bewiesen, dass ein Rechtsextremer eine freie Wahl im Westen gewinnen kann. Der Wunschkandidat des republikanischen Establishments war er nicht, man darf auch annehmen, dass dessen Angehörige sich ihre Partei gerne wieder zurückholen würden. Doch die Republikaner haben Trump im Wechselspiel mit der radikalisierten Basis, die sich zunächst in der Tea Party organisierte, den Weg bereitet. Möglich war dies nur, weil jene, die man mit Theodor W. Adornos »Studien über den autoritären Charakter« als »genuine Konservative« bezeichnen kann, eine vom Aussterben bedrohte Spezies sind.
»Genuine Konservative«, so Adorno, respektieren Autorität aus sachlichen Erwägungen und erkennen demokratische Prinzipien an, Pseudokonservative hingegen zeigen »Konventionalität und autoritäre Unterwürfigkeit in der bewussten Sphäre, begleitet von Gewalttätigkeit, anarchistischen Impulsen und chaotischer Destruktivität in der unbewussten«. Damals war den Pseudokonservativen die dunkle Seite ihrer Psyche wenigstens noch peinlich. Es stellt eine neue Qualität dar, dass Trump sich als bully in chief anpreist und damit Erfolg hat. Folgt das republikanische Establishment ihm weiterhin, verabschiedet sich eine der beiden bedeutendsten bürgerlichen Parteien der Welt von der Demokratie.
George W. Bush, dem manche liberals nun eine späte Würdigung zuteil werden lassen, hatte nach 9/11 noch einen inklusiven Patriotismus propagiert und den Koran zum Teil des amerikanischen Wertesystems erklärt. Diese Politik des multikonfessionellen Konservatismus schien auch machtpolitisch sinnvoll zu sein. Die demographische Entwicklung legte es nahe, sich auf Inhalte zu konzentrieren, mit denen man auch konservative Afroamerikaner und Latinos gewinnen kann: ökonomischer Individualismus, der den Aufstieg durch harte Arbeit preist, patriotisches Pathos und eine Gesellschaftspolitik, die die heterosexuelle Kleinfamilie begünstigt, aber andere Formen des Zusammenlebens toleriert. Der von Bush propagierte »mitfühlende Konservatismus« war kaum mehr als eine Parole, immerhin aber noch Ausdruck einer von allen Religionen geforderten Haltung: Man gibt wenigstens vor, den Armen helfen zu wollen.
War in den neunziger Jahren die Rechte noch überwiegend christlich-konservativ, so hat ein großer Teil der republikanischen Basis nun mit all diesen Werten gebrochen. Es überrascht nicht, dass Trump als Lieblingsvers aus der Bibel »ein Auge für ein Auge« nennt, bemerkenswert ist jedoch, dass seine Kenntnislosigkeit in religiösen Dingen und seine offene Abkehr von christlichen Werten ihm kaum geschadet haben. Früher hätte ein republikanischer Politiker sich nach einem Skandal wie der Veröffentlichung des »Grab them by the pussy«-Mitschnitts wenigstens bei seiner Ehefrau entschuldigen und Besserung geloben müssen, auch ein paar Tränen, und seien sie vom Maskenbildner, wären angebracht gewesen. Das ist nun überflüssig.
Vorgeblich göttliche Gebote waren für die Rechten das Über-Ich und der Ersatz für ein Gewissen. Offen zur Schau getragene Menschenverachtung war tabuisiert. Man plauderte in der Männerrunde auch mal über Titten und lästerte über Emanzen, setzte Frauen aber nicht öffentlich herab. Man mochte keine Steuern zahlen, um Behinderten eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, aber man machte sich nicht über sie lustig. Trumps Nachahmung der Behinderung eines Journalisten bei einer Wahlkampfveranstaltung im Juli hätte eigentlich genügen müssen, um ihn in den Augen jedes Konservativen zu disqualifizieren. Allerdings stand er mit seiner Menschenverachtung nicht allein, und immerhin bekundete er im Februar in einer Debatte über die Gesundheitsreform mehrmals, er wolle »Menschen nicht auf der Straße sterben lassen«, während Cruz immer wieder fragte, wer dafür bezahlen solle – »kill the poor« statt »compassionate conservatism«. Als Repräsentant der Tea Party trieb Cruz deren sozialdarwinistischen Marktextremismus auf die Spitze. Die Tea Party zeigte bereits starke rassistische Tendenzen, Cruz und andere rechte Republikaner erklärten den bewaffneten Widerstand gegen eine »Tyrannei« – aus ihrer Sicht bereits eine Regierung, die nicht dem Ideal des ökonomischen Individualismus folgt – für legitim. Diese Abkehr von demokratischen Normen konnte Trump aufgreifen.
Er begann seinen Wahlkampf als Rechtspopulist, erst auf dem Nominierungsparteitag im Juli erfolgte der Übergang zu offen antidemokratischen Parolen wie der Forderung nach einer Inhaftierung Hillary Clintons. Die sicherlich geplante Radikalisierung hätte »genuine Konservative« abschrecken müssen. Möglicherweise symbolisiert Trumps Sieg das Ende des Konservatismus, wie man ihn kannte. Schließlich geht es nicht nur um einzelne Forderungen – hier unterliegt einem historischen Wandel, was als konservativ gelten kann –, sondern um eine Lebenshaltung und ein Weltbild. Der klassische Konservative verstand sich als Skeptiker, der allen Heilslehren und waghalsigen gesellschaftlichen Experimenten misstraut. Er sah den Menschen als ein jederzeit zum Bösen fähiges Wesen, das durch Tradition, Gesetz und Autorität gebändigt werden müsse. Als Christ wusste der Konservative aber auch um seinen eigenen Hang zur Sünde und zum Bösen, sah sich also als ein Wesen, das sich durch innere Einkehr, Reue, Buße und Demut selbst bändigen muss.
Selbstverständlich entsprachen die meisten Konservativen im wirklichen Leben nicht diesem Idealtypus. Auf das Ideal zu verzichten oder es gar nicht mehr zu kennen, bedeutet jedoch, sich der Verrohung hinzugeben, in die eine autoritäre Haltung ohne checks and balances zwangsläufig führt.
Es ist bemerkenswert, dass Trump auch mit der Beleidigung von Kriegsveteranen, dem Bekenntnis zu Wladimir Putin und der demonstrativen Sorglosigkeit in der Debatte um russische Einflussnahme auf die US-Politik durchkommt. Last man standing bei den Republikanern ist nun John McCain, dem Trump seine Gefangennahme vorwarf – der damalige Bomberpilot McCain wurde 1967 über Vietnam abgeschossen und brach sich beide Arme – und der nun im Senat den Widerstand gegen die Ernennung Rex Tillersons zum Außenminister zu organisieren versucht. Ob er in seiner Partei genügend Gefolgsleute findet, die Tillersons enge Geschäftsbeziehungen zu Putin ebenfalls für ein Problem halten, wird zeigen, ob von den Republikanern Widerstand gegen Trumps Politik zu erwarten ist.
Dass Pseudokonservative eine sehr eigenwillige Vorstellung von Patriotismus haben, hat Adorno bereits im Licht der Psychoanalyse untersucht. Die nicht eingestandene Rebellion gegen den Vater führt sie zur Identifikation mit einem Ersatzvater, der ein Feind oder Konkurrent des Vaterlandes sein kann, vielleicht sogar muss. In Moskau findet sich ein geeigneter Kandidat, ein streng strafender Patriarch, unnahbar und doch volkstümlich, der den autoritären Idealen und Männlichkeitsvorstellungen entspricht.
Bereits Adorno vermutete, der Anteil der »genuinen Konservativen« gehe zurück; tatsächlich folgte dann auf den McCarthyismus die Epoche der Bürgerrechtsbewegung und der Jugendrevolte. Damals bedurfte es ausführlicher Interviews, um demokratiefeindliche Einstellungen festzustellen, während heutzutage das Internet vor rechter Hetze überquillt. Das mag dazu verführen, den Anteil der wahnhaften Rechten im Vergleich zu früheren Zeiten zu überschätzen. Andererseits hat wohl niemals zuvor ein Kandidat so unübersehbar deutlich gemacht wie Trump, dass man ihm nicht einmal die Leitung einer Hot-Dog-Bude anvertrauen dürfte, und dennoch eine Wahl gewonnen.
Vielleicht lässt die spätkapitalistische Wettbewerbsgesellschaft schlicht zu wenig Raum für »genuinen Konservatismus« im klassischen Sinn. Waghalsige gesellschaftliche Experimente, die die Eigentumsverhältnisse in Frage stellen, stehen nicht zur Debatte. Der Patron im Unternehmen, der als fürsorglicher Vater idealisiert wurde, ist verschwunden, an seiner Stelle regiert eine austauschbare Führung, die ständig Leistungssteigerung und Selbstoptimierung fordert, ohne zu belohnen. Trump will den Patriarchen und Patron für die USA geben, streng gegen deren innere und äußere Feinde, aber fürsorglich gegenüber den Unterwürfigen. Wer zur Familie gehört und wer zu Tisch gebeten wird, entscheidet er. Nationale Abschottung und weiße Vorherrschaft sind der Kern seines Programms. Der Ersatzbolschewist Trumps ist der Ausländer, ob Investor oder Migrant, der sich als imaginierter Sexualverbrecher (»Sie sind Vergewaltiger«, über mexikanische Einwanderer) oder Fressfeind (»Andere Länder essen unser Mittagessen«, über die Handelspolitik) in die Familie drängt.
Eine solche Politik, die sich nicht gegen einzelne Aspekte der kapitalistischen Modernisierung richtet wie etwa frühere konservative Kampagnen gegen Comics, sondern gegen deren derzeitige Form, die Globalisierung, muss notwendigerweise wahnhaften Charakter annehmen. Umso beunruhigender sind die Anpassung des republikanischen Establishments und die Gelassenheit der Bourgeoisie in den USA. In Europa ist nichts anderes zu erwarten und es ist wahrscheinlich, dass die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien Europas sich an Trumps Vorbild orientieren werden.