In diesem Jahr stehen harte Tarifauseinandersetzungen bevor

Ein bisschen Streik muss sein

Im vergangenen Jahr streikten die Beschäftigten in Deutschland selten. 2017 stehen dafür gleich mehrere Tarifrunden mit großem Konflikt-potential bevor. Die zu erwartenden Auseinandersetzungen könnten durch den Rechtsstreit über das umstrittene Tarifeinheitsgesetz noch verschärft werden.

Immerhin fast zwei Prozent – eine solche Steigerung des Reallohns konnten sich Beschäftigte im vergangenen Jahr erkämpfen. Die Tariflöhne wurden um 2,4 Prozent erhöht. Die Verbraucherpreise stiegen lediglich um etwa 0,5 Prozent. Der daraus resultierende tatsäch­liche Lohnzuwachs von knapp zwei Prozent ist zwar nicht rekordverdächtig. Bemerkenswert ist die Entwicklung dennoch, da die Zahl und die Heftigkeit der Konflikte 2016 deutlich geringer waren als im Jahr zuvor. Fielen 2015 noch etwa zwei Millionen Arbeitstage streikbedingt aus, wurden im ver­gangenen Jahr nur noch knapp eine Million Ausfalltage verzeichnet. Grund hierfür waren vor allem die schnellen Abschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie und in der Tarifrunde der Kommunal- und Bundesbeschäftigten. 
Ob 2017 ebenfalls so streikarm wird, ist fraglich. Etwa elf Millionen Beschäftigte in Deutschland sind von den ­anstehenden Tarifkonflikten betroffen, vor allem im Dienstleistungssektor.
Den Anfang machen die Angestellten der Bundesländer. Beim gestrigen Verhandlungsauftakt forderte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sechs Prozent mehr Lohn für die ungefähr eine Million Beschäftigten. Der Abschluss könnte durchaus eine Vorbildfunktion für andere Branchen haben. Die zuständigen Länderminister haben bereits zu erkennen gegeben, dass sie die Forderung für erheblich überzogen halten, so dürften Arbeitsniederlegungen unausweichlich sein. Ob sich Verdi tatsächlich durchsetzen kann, ist un­gewiss. Auf Landesebene ist die Gewerkschaft wegen des geringeren Organi­sationsgrads der Beschäftigten deutlich weniger schlagkräftig als in den Kommunen. Auch ist die öffentliche Aufmerksamkeit für Streiks in Kinder­tagesstätten und Krankenhäusern deutlich höher als in Finanzverwaltungen und Wasserwirtschaftsämtern.
Streiks sind auch im Zuge der im Frühjahr anstehenden Tarifverhandlungen im Einzelhandel zu erwarten. Für Frank Bsirske, den Vorsitzenden von Verdi, ist dies der »härteste Brocken« im Tarifjahr 2017. Denn hier geht es nicht nur um höhere Löhne für die etwa drei Millionen Beschäftigten, sondern wahrscheinlich auch um eine neue Entgeltordnung und damit strukturelle Veränderungen. In manchen Bundesländern sind die Tarifverträge so alt, dass sie noch Regelungen für Flakhelfer enthalten.
Für eine Erneuerung der Entgeltordnung müsste jedoch der Manteltarifvertrag gekündigt werden, in dem Grundlagen der Arbeitsbedingungen im Einzelhandel wie Kündigungsschutz, ­Urlaub und Arbeitszeiten geregelt werden. Im Fall einer Kündigung befürchtet Verdi jedoch weitere Einschnitte. Bereits 2013 versuchten die Arbeitgeber, mit der Kündigung des Manteltarifvertrags eine Schlechterstellung der ­Beschäftigten zu erreichen. Insgesamt sieben Monate dauerte der Arbeitskampf damals, an dem sich Hunderttausende beteiligten. In fast 1 000 ­Einzelhandelsbetrieben kam es zu Arbeitsniederlegungen, bevor eine Einigung erzielt wurde. Dabei gelang es der Gewerkschaft auch, Beschäftigte in ­Bereichen zu organisieren, in denen sie zuvor nur über geringen Einfluss verfügt hatte. Fast 30 000 Neumitglieder konnte Verdi im Laufe des Konflikts im Einzelhandel für sich gewinnen und damit erstmals seit der Gründung am Jahresende einen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Auch wenn damit die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Tarifabschluss in diesem Jahr gut sind, könnten immer weniger Beschäftige davon profitieren. Gerade Großunternehmen wie Edeka und Real haben sich in den vergangenen Jahren aus der ­Tarifbindung verabschiedet.
Vorerst nicht gestreikt, sondern geschlichtet wird bei Bahn und Lufthansa. Während die Bahn sich mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) noch kurz vor Jahresende einigen konnte, ist der Konflikt mit der berufsständischen Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) noch nicht beigelegt. Der GDL geht es nicht nur um vier Prozent mehr Lohn für Lokführer und Zugbegleiter, sondern vor allem um bessere Arbeitszeit- und Schichtregelungen. Da ein Ergebnis in Verhandlungen bisher ausgeblieben war, begann in der vergangenen Woche die Schlichtung. Mit dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (»Die Linke«) und dem SPD-Politiker Matthias Platzeck wurden zwei erfah­rene Vermittler berufen, die den Tarifkonflikt bei der Bahn schon einmal beilegen konnten. Bereits in der langanhaltenden Lohnauseinandersetzung 2015 war es ihnen gelungen, erfolgreich zwischen Bahn und GDL zu vermitteln. Der Streit zwischen der Pilotenvereinigung Cockpit und der Lufthansa soll ebenfalls geschlichtet werden. In beiden Fällen sind wegen der sogenannten Friedenspflicht Arbeitsniederlegungen erst nach einem Scheitern der Schlichtung möglich.

Es geht nicht nur um höhere Löhne für drei Millionen Beschäftigte im Einzelhandel, sondern auch um strukturelle Veränderungen. Manche Tarifverträge sind so alt, dass sie Regelungen für Flakhelfer enthalten.

Der Konflikt bei Eurowings, einem Tochterunternehmen der Lufthansa, das Billigflüge anbietet, könnte hingegen schon früher zu Flugausfällen führen. Zwar einigte sich Verdi im Dezember mit dem Konzern auf eine Erhöhung der Gehälter um 2,5 Prozent rückwirkend ab dem 1. Oktober 2016, um weitere 2,5 Prozent ab Oktober 2017 und um 1,25 Prozent ab Oktober 2018. Doch auch die konkurrierende Unabhängige Flugbe­gleiterorganisation (UFO) strebt einen Tarifabschluss an und würde im Fall eines Erfolgs auf der Grundlage des 2015 beschlossenen Tarifeinheitsgesetzes zum ersten Mal ein sogenanntes Tarifeinheitsverfahren in Gang setzen. Der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die die meisten Mitglieder hat, wäre dann gültig. Sowohl Verdi als auch die UFO beanspruchen für sich, die mitgliederstärkste Gewerkschaft bei Eurowings zu sein. Es müsste also notariell festgestellt werden, wer mehr Beschäftige vertritt.
Ob es tatsächlich dazu kommen wird, hängt auch von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab. Insgesamt elf Verfassungsbeschwerden liegen gegen das umstrittene Tarifeinheitsgesetz vor. Neben Berufs- und Spartengewerkschaften wie der GDL und der Vereinigung Cockpit klagt mit Verdi auch die zweitgrößte DGB-­Gewerkschaft gegen die Einschränkung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts durch das Gesetz. Am 24. Januar beginnt die mündliche Verhandlung zu fünf Beschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht.
Bis zu einem Urteil wird es zwar noch dauern, sollte das Gericht den Klägern jedoch Recht geben, könnte dies noch einmal mehr Dynamik in die Arbeitskämpfe bringen. Nötig wäre das allemal. Trotz der hierzulande beliebten Warnungen vor »streikwütigen Gewerkschaftern« und der »bestreikten Republik« ist Deutschland gemeinsam mit Österreich noch immer das Land mit den wenigsten Streiktagen im Jahr in Europa.