Wikileaks wird zur digitalen Müllhalde

Leak ohne Inhalt

Viel Neues wurde durch die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen nicht bekannt. Die Cyperspionage-Techniken der CIA sind wenig spektakulär. Interessanter ist die die Frage, welche Ziele Julian Assange mit der Veröffentlichung verfolgt.

Die Zeiten, in denen Hunderte Fans Tag und Nacht vor der ecuadorianischen Botschaft in London standen und darauf warteten, einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen, sind schon lange vorbei. Auch von den Promis, die sich früher darum rissen, mit Julian Assange fotografiert zu werden, haben sich die meisten stillschweigend vom selbsternannten Vorkämpfer für Demokratie und Transparenz abgewendet. Lediglich die ehemalige »Baywatch«-Schauspie­lerin Pamela Anderson besucht ihn regelmäßig und heizt Gerüchte über eine Beziehung zwischen den beiden mit zweideutigen Statements an. 
Dass in der vorigen Woche Nigel Farage zu einem Gespräch vorbeikam, ist immerhin folgerichtig. Denn spätestens seit Wikileaks sich mit der Veröffentlichung Tausender E-Mails von Hillary Clintons Chefstrategen John Podesta in den US-Wahlkampf einmischte und damit Donald Trump unterstützte, ist Julian Assange bei der Neuen Rechten und bei Verschwörungstheoretikern endgültig zum Star geworden. Die Podesta-Mails hatten zum sogenannten »Pizzagate« geführt, einer völlig haltlosen, aber zigtausendfach in den so­zialen Medien und Foren verbreiteten Geschichte, wonach Clinton und Podesta im Keller einer Washingtoner Pizzeria einen Kinderhandelsring betrieben. 
Dass Wikileaks ausgerechnet wenige Tage, nachdem Präsident Donald Trump via Twitter behauptet hatte, Barack Obama habe ihn abhören lassen, 8 761 Dokumente über CIA-Hacks veröffentlichte, kann als Versuch gewertet werden, diesen Anschuldigungen Gewicht zu verleihen. Bei Breitbart und anderen Medien der Alt-Right wurden die Leaks jedenfalls umgehend als Beweise ge­feiert, noch bevor irgendjemand die mehr als 30 000 Seiten umfassende Dokumentensammlung hätte durchlesen können. Wie so oft wird es Assange dabei um die Schlagzeilen gegangen sein. Wie seine neuen Verbündeten macht sich der Wikileaks-Gründer nämlich gern die Tatsache zunutze, dass der Öffentlichkeit meist nur eingängige Slogans im Gedächtnis bleiben, während die Headlines relativierende Hintergrundberichte kaum zur Kenntnis genommen werden – schon gar nicht, wenn sie das eigene Weltbild stören. 
Die groß angekündigten Enthüllungen erwiesen sich schnell als uninteressant. Die meisten der beschriebenen Sicherheitslücken waren entweder schon längst von den Herstellern geschlossen worden oder bezogen sich auf mittlerweile veraltete Versionen von Betriebssystemen, die kaum noch benutzt werden, wie Apple und Google umgehend bekanntgaben. Dass die CIA mittels Samsung-Fernsehern Menschen abgehört hat, ist unwahrscheinlich. Dass die Fernsehgeräte über eine benutzergesteuerte Spracherkennungs-Funktion verfügen, ist bekannt. Schon 2015 wurde in Samsungs Datenschutzvereinbarungen darauf hingewiesen, dass auch private Äußerungen an Dritte übertragen werden können. Bei Amazons »Alexa« ist das ebenfalls möglich. Aufzeichnungen der digitalen Sprach­assistentin wurden kürzlich sogar von einer US-Polizeibehörde für eine Mordermittlung angefordert.
Dass sich die CIA und der MI5 theoretisch mit der Möglichkeit beschäftigt haben, Samsung-Fernseher zu Abhörstationen umzufunktionieren, geht aus den Leaks klar hervor – allerdings stießen die Geheimdienste auf technische Probleme, die dies verhinderten. Live mitzulauschen wäre nicht möglich gewesen. Die Daten hätten nur übertragen werden können, wenn der Fernseher und die Wi-Fi-Verbindung ein­geschaltet gewesen wären. Außerdem hätten automatische Updates der Firmware verhindert werden müssen. Die Medienplattform CNET konstatiert: »Alles, was wir haben, ist ein drei Jahre alter Schnappschuss, in dem gezeigt wird, was zwei Geheimdienste mit einigen Fernsehermodellen zu tun versuchten, damals.« Und so fielen auch die Reaktionen in der Sicherheitsbranche auf die Wikileaks-Veröffentlichungen eher verhalten aus. Assange legte allerdings nach: »Wir haben entschieden«, erklärte er Mitte voriger Woche, »dass wir demnächst mit den Tech-Firmen in Silicon Valley zusammenarbeiten und ihnen exklusiven Zugang zu den technischen Details der Hacking-Techniken und Sicherheitslücken geben werden.« Auch diese Ankündigung sorgte für Schlagzeilen. Ob die Security-Firmen allerdings mit Assange und ­Wikileaks zusammenarbeiten wollen, ist fraglich. Ryan Kalember, Senior Vice President Cybersecurity Strategy bei Proofpoint, schloss wie andere seiner Kollegen eine Kooperation bereits aus. Er sagte dem britischen Guardian, dass die Leaks »nichts Welterschütterndes« enthielten. Im Gegensatz zu den veröffentlichten NSA-Dokumenten seien sie schon zuvor bekannt gewesen und technisch uninteressant. Die CIA habe im Prinzip zunächst wohl nichts anderes getan als die Cybersicherheitsexperten, sagte er: »Es wurden Listen von Sicherheitslücken zusammengestellt und dann wurde versucht herauszufinden, wie man diese Schwach­stellen ausnutzen kann.« Er fügte hinzu: »Natürlich sollte es der CIA peinlich sein, dass diese Dokumente bekannt geworden sind – aber wenn diese wirklich das Level ihrer technischen Raffinesse zeigen, sollte dem Dienst das noch viel peinlicher sein.« 
Dass Leaks nicht immer halten, was Assange verspricht, hatte sich zuletzt im Sommer 2016 gezeigt. Damals hatte sich Wikileaks die internationale Auf­regung über den versuchten Militärputsch in der Türkei zunutze gemacht und die Veröffentlichung von »mehr als 100 000 Dokumenten« aus der Zeit vor dem Coup an­gekündigt. Kurz darauf präzisierte der Twitter-Account der Whistleblower-Plattform, dass es sich um mehr als 300 000 »interne ­E-Mails von Erdoğans AKP« handele. Das Material habe man »eine Woche vor dem Putschversuch erhalten«, hieß es dann auf der eigens erstellten Web­site, Wikileaks habe es verifiziert und vor allem sei sicher, dass die Quelle weder Verbindungen zu »den Elementen hinter dem Coup noch zu einer rivalisierenden Partei noch mit staatlichen Stellen« habe. Etwas später wurde der Zugang zur Wikileaks-Seite, wenn auch nur für kurze Zeit, von der Türkei aus offiziell blockiert. Edward Snowden twitterte umgehend: »So authentifiziert man einen Leak: Die Türkei blockiert Wikileaks nach der Veröffentlichung von E-Mails der Regierungs­partei.« 
Rasch stellte sich dann jedoch heraus, dass es sich bei dem Material mitnichten um AKP-Mails, sondern um Nachrichten und Daten aus türkischen Politikforen handelte. Auf der eigens eingerichteten Seite konnten statt dessen Daten türkischer Wählerinnen ­abgerufen werden, mit Namen und Adressen. Der sorglose Umgang mit dem veröffentlichten Material ist bei Wikileaks nichts Neues. In den 2011 publizierten diplomatic cables wurden beispielsweise Namen und Wohnadressen von Bagdadern genannt, die ihren jü­dischen Mitbürgern halfen. In den sogenannten Sony-Leaks wurden nicht nur die von Managern des Konzerns verfassten unternehmensbezogenen ­E-mails veröffentlicht, sondern auch Schriftwechsel mit Verwandten und Freunden über ganz alltägliche Themen wie Liebeskummer, Vorfreude auf ein Date oder detaillierte Schilderungen schwerer Erkrankungen Dritter. 
Die in den USA lebende Journalistin und Soziologin Zeynep Tufekci warf Assange und Wikileaks nach der Veröffentlichung der sogenannten AKP-Mails mangelnde Sorgfalt vor. Jährlich würden Hunderte Frauen in der Türkei von ihren ehemaligen Partnern umgebracht, viele würden daher nach ­einer Trennung an einen geheimen Ort umziehen. Eine solche nach Namen durchsuchbare Daten- und Adresssammlung könne daher potentiell lebensbedrohlich sein, schrieb sie, und twitterte ihre Vorwürfe auch an den Wikileaks-Account. Der reagierte so, wie es auch Aktivisten und Publikationen der Alt-Right tun, wenn sie bei einer Unwahrheit erwischt werden: Zunächst zog sich der mutmaßlich von Assange betriebene Account an einer falschen Wortwahl der Kritikerin hoch und beschuldigte sie anschließend der Lüge. Wikileaks versuchte, Tufekci als Erdoğan-Anhängerin darzustellen – in den Tagen nach dem Putsch eine bewusste Einladung an türkische Oppositionelle, die eigentlch eher linke Journalistin zu beschimpfen und zu bedrohen. Der Tweet-Wechsel zwischen Wikileaks und seiner Kritikerin zeigt allerdings auch, von Assange sicher nicht beabsichtigt, wie sehr der Einfluss von Wikileaks auf seine rund 1,8 Millionen Follower gesunken ist. Mussten vor allem Jour­nalisten noch vor wenigen Jahren mit regelrechten Shitstorms der Whistle­blower-Fanbase rechnen, sind es heute nur noch wenige Twitterer, die von Assange angegriffene Einzelpersonen mit Beleidigungen und Drohungen überziehen. 
Wodurch genau Assange seine ehemaligen Anhänger verloren hat, lässt sich nicht sagen. Die frühzeitig veröffentlichten Beweise für seinen Anti­semitismus dürften es nicht gewesen sein, denn der Whistleblower verlor ­dadurch selbst bei großen internationalen Medien zunächst nicht an Rückhalt. Ausschlaggebend dürften eher die vielen kleinen Unwahrheiten gewesen sein, die er verbreite. Wie die vom kontinuierlichen Hausarrest, den er in Tweets gerne beklagte – während er in Wirklichkeit nur zu festgelegten Zeiten im Anwesen seines Gastgebers sein musste und später mitsamt seiner elektronischen Fußfessel ungehindert nach London fahren und in der ecuadorianischen Botschaft um politisches Asyl bitten konnte. Oder wie das An­gebot an Obama, dass er sich sofort den schwedischen Behörden stellen werde, wenn Chelsea Manning begnadigt würde. Und so dürfte auch der vor einigen Wochen veröffentlichte Aufruf Assanges, Trumps Steuererklärung an Wiki­leaks zu übermitteln, nur ein schlagzeilenträchtiger Trick gewesen sein. Geleakt wurde sie offenkundig nicht. Oder vielleicht doch, und sie wurde nur nicht veröffentlicht – die Plattform, die sich selbst als wichtiges Instrumentarium der Demokratie sieht, wird schließlich gerüchteweise nur von einer Einzelperson kontrolliert, deren Hang zu Publicity in eigener Sache das Projekt längst in den Hintergrund gedrängt hat. Angst, dass die Sache mit der Steuererklärung auch zu negativen Berichten führen könnte, muss Assange immerhin nicht haben: Falls jemand sie weitergegeben haben sollte, wäre derjenige sicher nicht so blöd, sich öffentlich über eine Nichtveröffentlichung zu beschweren.