Mark Wynns sehr persönliche Verarbeitung eines kaputten Englands

Manie und Konsequenz

Auf der Flucht vor der Aufmerksamkeitsökonomie entwickelt sich der britische Musiker und Labelmate der Sleaford Mods, Mark Wynn, zu einem großartigen Sonderling.

Als Mark Wynn im Januar 2015 vom britischen NME zu einem der 50 Musiker »to watch in 2015« gekürt wurde, das Magazin von »UK’s next great street poet« schrieb und ihn mit Mark E. Smith verglich, zog Wynn daraus seine Konsequenzen: Er kündigte an, die Musik an den Nagel zu hängen und von York nach Schottland zu ziehen, noch weiter an den Rand der Aufmerksamkeit britischer Medien. Im April 2015 erschien zwar noch das Album »Skivvy: A Much More Noble Occupation« als CD-Beilage der zwölften Ausgabe seines Fanzines Dirty Work, doch die Manie, mit der Wynn seit 2012 fast vierteljährlich Alben mit Titeln wie »James Dean Makes Me Insecure, Why Does He Have to Be so Shexy« oder »Last of the Real Rock Stars Is a Stupid Phrase, I Am Way Fitter than Billy Fury Ever Was and I Don’t Care What Anyone Says« in die Welt geworfen hatte, war verflogen.
Formen der Verweigerung wie jener Rückzug vor der Aufmerksamkeit der britischen Musikpresse ziehen sich durch die gesamte Musikerbiographie Mark Wynns. Wenige Jahre zuvor hatte er bereits abrupt die eigene musikalische Vergangenheit hinter sich gelassen: Bis etwa 2010 galt er als der beste Fingerpicking-Gitarrist in ganz York, war als Blues-Interpret und Americana-Songwriter aufgetreten, bis er diese Karriere nach einer Epiphanie – wie er an seiner eigenen Legende strickend behauptet – gegen die Neuerfindung seiner Künstlerpersönlichkeit als »word noise blah artist«, als LoFi-Punk, Antifolk-Musiker und Alltagspoet eintauschte. Die einengende Form des Bluesschemas hatte offensichtlich dem Mitteilungsdrang des rastlosen Mark Wynn nicht mehr genügt. Die Offenheit der DIY-Punkästhetik dagegen, die Genervtheit von Mark E. Smith gepaart mit der Albernheit von Antifolk-Acts wie den Moldy Peaches und den Alltagsbeobachtungen eines Jeffrey Lewis oder auch Rolf Dieter Brinkmann, boten dem neuen Mark Wynn die Möglichkeit, in Song-Miniaturen, die selten die Zweiminutengrenze überschreiten, der Welt seine Sicht auf die Dinge darzulegen. Die billig produzierten Stücke sind immer exakt so lang, wie er eben braucht, um seine Geschichte zu erzählen. Es gibt keine unnötigen Intros, Solos oder ähnlichen Schnickschnack. Über ein bis zwei von ihm eingespielten Gitarrenspuren und sparsam eingesetztem Drumcomputer erzählt er Storys, die ob der Textmassen, die Wynn in kürzester Zeit loswerden muss, zu bersten scheinen. Was in den Songs keinen Platz findet, zieht sich handgeschrieben oder aus Zeitungsartikeln collagiert über die Albencover, Textbeilagen und zahlreichen selbstkopierten Ausgaben seines Fanzines Dirty Work in schier endlosen Strömen hin. Collagen, Satzfetzen, Selbstreflexionen und Linernotes ergeben zusammen einen niemals endenden stream of conciousness, dem zu folgen einzig Wynn selbst gelingen dürfte. Als »wordy songs about stuff around me« hat Wynn seine Musik in einem Interview beschrieben. Dieser stuff reicht von aufgeschnappten Dialogen über Begegnungen mit Freunden und Fremden bis hin zu eigenen Erlebnissen in dieser verwirrenden Welt, deren Verwirrung ungefiltert an die Hörer weitergegeben wird: »Just say anything that comes to mind, regardless of whether it’s the right or wrong time«, singt er in »Skin Complaint«. Das erinnert an die produktivsten Phasen von Daniel Johnston, mit dem er auch die gnadenlose Offenheit teilt, in der Selbstzweifel und Abgründe der eigenen Psyche ganz selbstverständlich Teil des Gesamtwerks werden. In »A Man in the Supermarket Wiping down the Fruit« heißt es: »Do you know what I’m trying to say, baby? No? Me neither«. Diese Selbstüberforderung hält ihn jedoch nicht von dem Versuch ab, die Welt in immer neuen Songs zu fassen zu bekommen. Mark Wynn ist albern, sarkastisch, tanzbar, abgründig, bescheuert und genial und er ist all dies gleichzeitig. Aus seiner radikal subjektiven Perspektive interpretiert er den stuff um ihn herum, vom Haarschnitt bis zur gescheiterten Liebe: »I’m in love with a girl – the girl is gone. I’m in love with the world – the world is wrong« (»Sedative«).
Solche Manie und Konsequenz bleiben nicht unbemerkt und so konnte Steve Underwood, der Betreiber des Labels Harbinger Sound, Wynn 2016 zur Veröffentlichung der Compilation »Singles – But They’re Not Really Singles I Just Sent Them to the Screen and Said They Were Singles« überreden. Im selben Jahr ging Wynn zusammen mit seinen neuen Labelkollegen Sleaford Mods auf Tour, eine durchaus passende Kombination, wie auch Jason Williamson von den Sleaford Mods befand: »The same grey fucking cloud that followed me now hangs above him. He’s got it.« In Sachen Rastlosigkeit steht Wynn den Stars aus Nottingham nicht nach, seine Songs tragen allerdings etwas weniger Wut in sich. Viel eher sind sie Ausdruck der Untiefen des eigenen Lebens: »Favou­rite colour: black. It’s an outward expression of an inner instability« (»Dirty Work«). Während die Sleaford Mods die Ursachen des kaputten Sozialstaats in Großbritannien benennen und der Feindbestimmung ihre Energie widmen, bleibt die Krise bei Wynn vor allem eine persönliche, in der sich gleichzeitig die ökonomische zeigt: »A Tenner? – I’ll Do It Myself« heißt dann etwa eine Single, die einen unerschwinglichen Friseurbesuch thematisiert. In den Linernotes zur Single schreibt Wynn: »Songs like this usually have something clever like a moral or something funny like that at the end, but I don’t really have one, I only wrote this song because my friend Rob said he liked my acoustic songs more.« Erklärungen sind bei Wynn nicht zu finden, vielmehr Zustandsbeschreibungen, die in ihrer Gesamtheit viel über die Gegenwart Großbritanniens aussagen.
Die Weigerung, sich den Zwängen der Gesellschaft zu ergeben, macht aus dem Alltagspoeten Wynn eine durchaus politische Person. Die Absage an die Strukturen der Musikindustrie durch die Überführung des DIY-Punkkonzepts in die Gegenwart, vom selbstkopierten Fanzine über die billigen LoFi-Aufnahmen bis hin zu den selbstgeschaffenen Vertriebsstrukturen, ist gegenwärtig selten in solcher Konsequenz zu finden wie bei Mark Wynn. Diese mit großer Geste vorgetragene Verweigerung zeigt sich besonders deutlich in seinen Live-Performances, die diese Bezeichnung tatsächlich verdienen. Auf einer Wynn-Show kann alles passieren: dass er zum Playback seiner Songs strippt, irgendeine aktuelle Pop-CD einlegt und über die Songs »This is a cover« brüllt oder am Tisch sitzend Gedichte rezitiert. »Mark Wynn is a semi-nude performance artist renowned for his unsettling live shows and carefree attitude to professional recording standards«, weiß Discogs und fasst damit Wynns Schaffen treffend zusammen, das sich auch in Sachen Output wieder gefangen zu haben scheint: Neben der Compilation auf Harbinger Sound erschienen 2016 immerhin noch eine Single, neue Dirty Work-Ausgaben und das Album »Achin’ at the Prospect – A Racket (That One)«. Im Frühjahr 2017 kann man sich von der großen Verweigerung während der gemeinsamen Tour mit Pisse und den Sleaford Mods selbst ein Bild machen.

Mark Wynn: Singles – But They’re Not Really Singles I Just Sent Them to the Screen and Said They Were Singles (Harbinger Sound)
Mark Wynn: A Tenner? I’ll Do It Myself (Beau Travail/In A Car)