Eine afrokolumbianischen Gemeinde erinnert an ihre Vertreibung durch paramilitärische Gruppen und ihren Widerstand

Neue Hoffnung im Dschungel

Afrokolumbianische Gemeinden im Departamento Chocó wurden vor 20 Jahren von der kolumbianischen Armee und paramilitärischen Gruppen brutal vertrieben, doch ihre Mitglieder kehrten später auf ihre Ländereien zurück. Ein Festival zum Jahrestag der Vertreibung erinnert an ihren Widerstand und stärkt die Vernetzung.

»Guten Tag«, begrüßt der Soldat die Passagiere mit fester Stimme. Er steht am Bug eines kleinen Schnellbootes der Marine, in dem zwölf Soldaten dicht gedrängt sitzen und sich an ihren Gewehren festhalten. »In den Morgenstunden des heutigen Tages hat es in diesem Gebiet Kämpfe gegeben. Die Lage ist mittlerweile unter Kontrolle. Dennoch weise ich Sie darauf hin, dass Ihre Weiterfahrt auf eigene Verantwortung geschieht«, mahnt er. Als der Soldat zu Ende gesprochen hat, setzen die fünf vollbesetzten Boote ihre Fahrt fort. Die Reisegruppe besteht aus kolumbianischen Menschenrechtlern, internationalen Unterstützern aus Italien, Deutschland und Spanien, einer Handvoll Journalisten und den stets präsenten Begleitern der Internationalen Friedensbrigaden (PBI). Sie befinden sich auf dem Weg nach Cacarica, einer afrokolumbianischen Gemeinde in der Region des Bajo Atrato an der Grenze zu Panama. Wochenlang hat die Gemeinde das »Festival für die Wahrheit« geplant. Es soll 20 Jahre nach der »Operation Genesis«, einer von Paramilitärs unterstützten Offensive der 7. Armeebrigade im Zuge des Kriegs gegen die Guerilla, daran erinnern, wie Tausende Gemeindemitglieder aus ihren Siedlungen vertrieben wurden und Dutzende gewaltsam verschwanden. Jahre später erst wagten die Vertriebenen es, wieder auf ihre Ländereien zurückzukehren.
Jetzt mit den Booten umzudrehen, kommt kaum in Frage. »Wir haben heute Morgen für wenige Sekunden lediglich ein paar Gewehrsalven gehört, mehrere Kilometer von hier entfernt«, sagt Marlon*, einer der Gemeindeführer, nachdem die Besuchergruppe nach einem mehrstündigen Fußmarsch durch den Dschungel, beobachtet von Affen, Krokodilkaimanen und Aras, die Siedlung Nueva Esperanza en Dios (Neue Hoffnung in Gott) erreicht hat. »Wenn überhaupt war es ein Scharmützel«, meint er gelassen. Erst vor wenigen Tagen waren schwerbewaffnete Männer in die Siedlung eingedrungen und hatten die mehr als zwei Dutzend Holzhäuser der verängstigten Bewohner durchsucht. Die international gut vernetzte Gemeinde schlug sofort alle verfügbaren Alarmglocken und Amnesty International initiierte wenige Tage später eine weltweite Eilaktion. Deshalb, so glauben manche hier, könnte es sich bei den vermeintlichen Kämpfen um ein Manöver des Militärs handeln, um die internationalen Besucher zu beeindrucken und zu zeigen, dass es etwas gegen die von der Regierung offiziell grupos armados organizados genannten bewaffneten Gruppen tut, die Kritiker als paramilitärische Gruppen bezeichnen. Diese Gruppen versuchen derzeit in ganz Kolumbien die Kontrolle in jenen Gegenden zu übernehmen, in denen die Guerilla Farc das Sagen hatte, bevor sich deren Kämpferinnen und Kämpfer nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in die Demobilisierungszonen begaben. Mehrmals die Woche melden soziale Organisationen in ganz Kolumbien Morde an Menschenrechtlern und Mitgliedern sozialer Bewegungen, vor allem in ländlichen Gegenden. Allein seit Jahresbeginn wurden mehr als 20 von ihnen getötet. 
Seit einigen Tagen campiert eine Gruppe Soldaten neben der Siedlung, um, wie sie sagen, die »illegalen Gruppen zu bekämpfen und die Sicherheit der Gemeinde zu garantieren«. Das Vertrauen der afrokolumbianischen Gemeinde ist angesichts der brutalen Armeeoffensive, die sie 1997 erleben musste, gering. »Vertrauen baut man mit Taten auf, nicht mit Versprechungen, habe ich dem Kommandeur gesagt«, erzählt Marlon.

Bleiberecht für Gemeinden

Doch die Debatten über die paramilitärische Bedrohung verstummen an diesem Abend, als das Festivalprogramm beginnt. Mit einer Nachtwanderung mit Hunderten Kerzen und Fackeln wollen die Jugendlichen der Gemeinde an ihre Geschichte erinnern. An jeder der insgesamt zehn Stationen der Wanderung spricht eine junge Frau oder ein junger Mann, sie zitieren eigene Gedichte oder rappen über die Vergangenheit und darüber, wie und warum es ihren Familien gelang, auf ihre Ländereien zurückzukehren. Mehr als drei Jahre hatten sie in der Hafenstadt Turbo, in der vor allem Bananen und Kokain verschifft werden, unter erbärmlichen Umständen in einer Turnhalle ausgeharrt. »Es gab in Turbo keine Zukunft für uns«, erzählt Patricio, eines der älteren Gemeindemitglieder, während des Marsches. »Dort hätten Gewalt und die Zerrüttung der Familien auf uns gewartet. Unser Bildungsniveau ist viel zu gering, als dass wir dort gute Arbeit hätten finden können. Unsere Zukunft ist hier«, sagt er und berichtet, wie den Gemeinden mit Unterstützung nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen die Rückkehr auf ihr Territorium gelang. In anderen Teilen der Region hätten die neuen Besitzer der Ländereien unterdessen Palmölplantagen angelegt.
Das »Territorium«, eine Kleinstregion, in der die meist kleinbäuerlich lebenden Bewohnerinnen und Bewohner versuchen, möglichst viel selbst zu bestimmen und in der sie sich »verwurzelt« fühlen, ist zum zentralen Konzept in den Kämpfen sozialer Bewegungen besonders im ländlichen Kolumbien geworden. Hintergrund dafür sind Konflikte, wie sie am Bajo Atrato stattfinden und die Teil einer Entwicklung sind, die in vielen peripheren Regionen des geographisch zerklüfteten Kolumbien seit mehr als einem Jahrhundert immer wieder zu beobachten ist: Immer dann, wenn die Lebensbedingungen für die abhängigen Landarbeiter sich verschlechtern, suchen sie in bislang unerschlossenen Gebieten neues Glück. Auf sich allein gestellt ringen sie dem Brachland gemeinschaftlich ihren Lebensunterhalt ab und bauen ohne staatliche Unterstützung Schulen und Straßen – bis das Gebiet das Interesse von Großgrundbesitzern, Investoren oder heutzutage der Agrarindustrie weckt, was wiederum zu Konflikten und Vertreibungen führt. Aus diesem Teufelskreis auszubrechen, war Kern des Kampfes der Farc, aber auch einer Vielzahl unbewaffneter, von der Guerilla unabhängiger Menschenrechtsorganisationen.
Die afrokolumbianischen Gemeinden am Bajo Atrato, die von der befreiungstheologischen NGO »Justicia y Paz« (JyP) begleitet werden, sind ein erfolgreiches Beispiel dafür. Sie gründeten nach ihrer Rückkehr mehrere Hektar große Siedlungen, umzäunten sie mit Stacheldraht, erklärten sie zur »humanitären Zone« und verboten allen bewaffneten Akteuren, diese zu betreten. Hunderte vertriebene Familien kehrten auf ihr Land zurück. Allein in Nueva Esperanza leben heute 50 Familien. Vieles von dem, was sie anbauen – Reis, Maniok und Mais –, konsumieren sie selbst, manches verkaufen sie. Die meisten Familien halten außerdem ein paar Kühe und Schweine. Sie leben nicht im Luxus, aber besser als viele ihrer gesellschaftlichen Klasse, die vom Land in eine Großstadt geflohen sind. Ihre Verteidigungsstrategie hat sich als erfolgreich erwiesen. Teilweise konnte der Anbau von Ölpalmen, den Großgrundbesitzer nach der Vertreibung der Kleinbauern begannen, aufgehalten werden. Gemeinsam mit JyP und dank der internationalen Solidarität haben die Gemeindemitglieder im Laufe der vergangenen Jahre Geld für Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung eingeworben, soziale Projekte ins Leben gerufen und eine Schule mit eigenen Lehrkräften aufgebaut. Die Geschichte der Gemeinde ist weltweit bekannt. Sie hat ein Buch über ihre Geschichte veröffentlicht und einige der Jugendlichen haben mit ihrer Rapcrew eine gewisse Bekanntheit erlangt. Die deutsche Schriftstellerin Alexandra Huck, die für die Menschenrechtsorganisation Kolko arbeitet und die Gemeinde nach ihrer Vertreibung als Friedensbrigadistin begleitete, hat einen von der Geschichte dieser Menschen inspirierten Roman geschrieben.

Fußballmatch

Wahrheit unterm Mangobaum

Der nächste Tag beginnt unter einem großen Palmdach mit dem gemeinsamen Singen eines der Lieder, das die Gemeindemitglieder während der Rückkehr auf ihr Land intonierten und in dem es um die Region an der Pazifikküste geht: »Hör mir zu, Chocó, es gibt keinen Grund, dass du so leidest. Der Verzicht deines Herzens. Eines Tages, eines Tages, wird unsere Erlösung kommen.«
Am Rande sitzt Erika Carvajal. Die junge Mitarbeiterin von JyP besucht mehrmals im Monat die Gemeinde. »Unsere Arbeit besteht unter anderem darin, die Organisation der Menschen zu fördern und zu stärken. Wir begleiten die Gemeinden hier im Bajo Atrato bei der Einforderung ihrer gesetzlichen Rechte, auch im Bereich der Bildung, Gesundheit und Umwelt«, erläutert sie die Arbeitsweise der Organisation, die seit den achtziger Jahren Kleinbauern unterstützt, die in soziale Konflikte verwickelt sind und zivilen Widerstand leisten.
»Als wir 1997 auf die Vertriebenen in Turbo trafen, haben wir zunächst begonnen, im Bereich der Bildung zu arbeiten, allem voran bezüglich der Menschenrechte«, sagt Carvajal. Denn mit der Vertreibung unter Mithilfe des Militärs wurden grundlegende Rechte der Menschen verletzt, die diese juristisch geltend machen können. Hinzu kam der rechtliche Beistand. Das Anwalts-team von Justicia y Paz brachte den Fall gemeinsam mit der Gemeinde, die mittlerweile die Organisation »Cavida« gegründet hatte, vor den Interamerikanischen Gerichtshof, der den kolumbianischen Staat dazu verurteilte, die Opfer zu entschädigen. Ein hochrangiger General a. D., der die Verbindungen zu den paramilitärischen Gruppen geknüpft hatte, wurde in Kolumbien zu 25 Jahre Haft verurteilt.
Die Gesangseinlage ist beendet, Erika Carvajals Kollege Danilo Rueda hält nun das Mikrophon. Er spricht über die Situation der sozialen Bewegungen in Kolumbien, die Bedrohung durch paramilitärische Gruppen und die Bedeutung der Friedensvereinbarungen von Havanna. Bei der Arbeit von JyP geht es letztlich um Politik und so klingen die Worte Ruedas zuweilen wie eine Wahlkampfrede. Er spricht von bereits erzielten Erfolgen, von Herausforderungen und Chancen. »Der Frieden ist die neue Demokratie«, sagt er. »Wir haben die Möglichkeit, eine neue, eine andere Geschichte dieses Landes zu schreiben. Bis es eines Tages in Bogotá einen Minister gibt oder einen Staatspräsidenten, der aus eurer Mitte kommt und Politik in eurem Sinne macht, damit sich Kolumbien ändert.«
Danach beginnen die Sitzungen der verschiedenen Arbeitsgruppen. Unter einem Mangobaum trifft sich die Gruppe »Wahrheit«, an einem schattigen Plätzchen neben dem Fußballfeld tagt die Gruppe »Gerechtigkeit«. Die Vereinbarungen von Havanna bestehen bislang lediglich auf dem Papier, ihre Umsetzung beginnt gerade erst. So etwa die Aufarbeitung der von den Konfliktparteien begangenen Verbrechen oder die »Entwicklungspläne mit territorialem Fokus«, die, auf Grundlage der Entscheidung der lokalen Bevölkerung, wirtschaftliche Entwicklung in die abgelegenen Regionen bringen sollen. Es ist die Stunde der sozialen Basisorganisationen. Je besser sie organisiert, je einheitlicher und fundierter ihre Vorschläge sind, umso mehr können sie in der nun beginnenden Implementierungsphase aus den Friedensvereinbarungen herausholen. Neben Vertretern der afrokolumbianischen Gemeinden des Bajo Atrato sind Vertreter verschiedener, von Justicia y Paz unterstützter Gruppen aus dem ganzen Land nach Cacarica gekommen. Deren Führungsfiguren zusammenzubringen, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Nenner zu finden, ist ein Ziel des Festivals. Die Arbeitsgruppen schreiben die Ergebnisse am Ende auf große Poster und präsentieren sie anschließend allen.
Eine kleine Truppe um den Lehrer Henry malt die letzten Buchstaben auf ein mehrere Meter breites Banner. »Friedensuniversität für soziale Gerechtigkeit. Zweigstelle Mariano López« steht darauf. »Für uns ist wichtig, dass unsere Kinder und Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, die unseren Bedürfnissen als Gemeinde entspricht«, erläutert er. Henry ist eine der ersten eigenen Lehrkräfte der Gemeinde. »Die Lehrer, die uns früher von der Stadtverwaltung zugeteilt wurden, kannten unsere Realität nicht und sind oft nach einem halben Jahr wieder gegangen«, erzählt er. Nun sollen Mitglieder der zivilen Widerstandgemeinden an diesem geplanten landesweiten Netz aus Friedensuniversitäten auch eine weiterführende Ausbildung in Agrar- oder Politikwissenschaften erhalten können. »Bildung der einfachen Bevölkerung für die Bevölkerung«, sagt Henry in einer kurzen Rede, nachdem das Banner an einem Teil des Gemeindegebietes angebracht wurde, an dem die Zweigstelle »Friedensuniversität Cacarica« einmal stehen soll. Sie trägt den Namen eines Gemeindeführers, den paramilitärische Kämpfer während der »Operation Genesis« mit einer Machete enthaupteten und mit dessen Kopf sie sodann Fußball spielten. Doch trotz dieser schrecklichen Erinnerung lässt sich die Gemeinde den Spaß am Spiel nicht nehmen. So endet das »Festival für die Wahrheit« im warmen Sonnenlicht des Nachmittags mit einem bedeutungsschwangeren Fußballmatch unter reger Beteiligung der Bewohner und internationalen Besucher.

* Name von der Redaktion geändert.