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»Täter-Opfer-Umkehr«

In Köln findet in zwei Monaten das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« statt. Im Schauspiel Köln ist eine öffentliche Anklage der am NSU-Komplex Beteiligten geplant. Das Tribunal beginnt am 17. Mai und endet am 21. Mai mit einer Demonstration sowie einer »Feier der Gesellschaft der Vielen«. Die Jungle World hat mit dem Mitorganisator Massimo Perinelli gesprochen.
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Was hat es mit dem NSU-Tribunal auf sich?

Das Tribunal ist Ausdruck der vierjährigen Arbeit mit Opfern, Betroffenen und Familienangehörigen der Mordopfer des NSU-Terrors. Diese Arbeit begann in Köln. Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 haben die Betroffenen des Bombenattentats in der Keup­straße von 2006 weiterhin geschwiegen. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass sie Ärger bekommen, wenn sie darüber reden. In den polizeilichen Ermittlungen gab es jahrelang eine Täter-Opfer-Umkehr. Unsere Arbeit bestand von Anfang an darin, gemeinsam mit ihnen das Schweigen zu überwinden, damit sie ihre Erfahrungen mit dem Rassismus des NSU, aber auch mit dem der Institutionen mitteilen. Unser erster Schritt war, sie nach München zur Zeugenaussage beim NSU-Prozess zu begleiten und ihnen dort den Rücken zu stärken.

Es gibt den Prozess und zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse – warum jetzt dieses Tribunal?

Die Untersuchungsausschüsse haben viel aufgeklärt. Das Problem ist aber, dass das kaum oder die falschen Konsequenzen hatte. Die Berichte der Untersuchungsausschüsse zeigen auf Tausenden von Seiten ganz klar die Mängel und die Verquickungen der Geheimdienste. Die Konsequenz müsste eigentlich sein: Eine stärkere Kontrolle der Geheimdienste, die Abschaffung des V-Personen-Systems, Entlassungen und eine Demokratisierung der Behörden sowie die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Das Gegenteil ist aber geschehen. Der Verfassungsschutz hat jetzt mehr Geld, mehr Personal, mehr Befugnisse, also insgesamt mehr Mittel, sein schmutziges Geschäft weiterzuführen. Das Gericht in München wiederum klagt ein paar Leute an. Wir wissen aber inzwischen, dass es ein großes Netzwerk war, das sich gegenseitig unterstützt und diese Mord- und Anschlagsserie mitgetragen hat. Diese Leute stehen nicht vor Gericht. Wir sagen auch, dass der Terror nicht nur aus den Morden und Bomben bestand, sondern weitergeführt wurde durch die rassistischen Ermittlungen gegen die Opfer des Terrors, durch das Gegeneinanderausspielen der Betroffenen. Auch das gehört angeklagt. Deswegen wollen wir einen Raum schaffen, in dem die Betroffenen und die Initiativen, die mit ihnen zusammen kämpfen, genau diese Anklage entwickeln und alle benennen können, die diesen Komplex mit aufgebaut haben.

Wer klagt an und wer wird angeklagt?

Ankläger sind die Initiativen, die sich zumeist in den Städten der Tatorte gegründet haben, zusammen mit den Opfern und deren Familien. Es gibt schon lange nicht mehr eine klare Trennung zwischen Betroffenen und Initiativen, wir sind längst eins geworden. Wir entwickeln das zusammen und klagen zusammen an. Angeklagt werden alle, die den NSU-Komplex ermöglicht haben, also außer den Nazistrukturen auch Geheimdienstmitarbeiter, die davon gewusst haben, die dieses Netzwerk betreut, mit Geld versorgt und vor Verfolgung geschützt haben. Aber auch Behörden, die die Ermittlungen in die falsche Richtung haben laufen lassen, obwohl die Betroffenen sie darauf hingewiesen haben, dass es Nazis gewesen sein mussten, oder Journalisten, die all die Jahre gegen die Opfer selbst gehetzt haben, indem sie von »kriminellen Ausländermilieus« und »düsteren Parallelwelten« fabuliert haben und so die Stimmung erzeugten, in der der NSU jahrelang weiter morden konnte.