Neue Maßnahmen in Ungarn gegen Erwerbslose mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen

Krank geworden, arm gemacht

Die ungarische Regierung bekämpft die Armen statt die Armut. Ihre neueste Maßnahme richtet sich gegen arbeitslose Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Die Journalistin Julia Lévai berichtete in der Wochenzeitung Élet és Irodalom am 17. Februar über eine besonders perfide Maßnahme der ungarischen Regierung: »Der Staat spielt kontinuierlich Mühle mit Menschen, die körperlich oder geistig beeinträchtigt und deshalb im Arbeitsprozess nicht uneingeschränkt vermittelbar sind. Diese Personen sind in zweifacher Hinsicht von staatlicher Betreuung abhängig. Zum einen bedürfen sie einer besonderen Arbeitsvermittlung, zum anderen brauchen sie eine finanzielle Unterstützung. Bis jetzt waren sie als Arbeits­suchende registriert und erhielten eine soziale Unterstützung von 22 800 Forint monatlich.« Das entspricht etwa 75 Euro. 

Doch vor kurzem hat die Regierung angeordnet, die eingeschränkt Arbeitsfähigen aus der Registratur der Arbeitsämter zu entfernen. Zugleich entzog sie ihnen die Einstufung als sozial zu Unterstützende. Das bedeutet: keine weitere Begünstigung im öffentlichen Verkehr, keinerlei Berechtigung mehr, Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch zu nehmen. Seit Januar werden Personen, die weniger als 50 Prozent gesundheitlich geschädigt sind, nicht mehr als arbeitssuchend registriert. In der Regel war die staatliche Unterstützung von 22 800 Forint vorher ihr einziges Einkommen. Dieses Geld erhalten sie nun ebenfalls nicht mehr. 
Der oppositionelle Fernsehsender Hir TV lieferte Anfang Februar ein Beispiel: »Der 62jährige István Faragó ist wegen seiner Rückgratprobleme seit Jahren arbeitsunfähig. Laut ärztlichem Gutachten ist er zu 42 Prozent gesundheitsgeschädigt. Dies genügte bis jetzt, ihn im Register der Arbeitssuchenden zu belassen, wegen der neuen Regeln ist er jedoch seit Januar nicht mehr registriert. Am Jahresende hat man ihn mit einem Bescheid informiert, dass er aus diesem Register gestrichen wird. Damit erhält er auch die 22 800 Forint nicht, die der Staat denjenigen zahlte, die noch nicht pensionsberechtigt sind.« Lajos Kósa, der Fraktionsführer der Regierungspartei Fidesz, nahm dazu in einer Pressekonferenz Stellung, die auch auf Hir TV ausgestrahlt wurde. Diese Situation sei entstanden, weil die Regierung ge­rade »Ordnung schafft«. Kósa versprach: »Wir möchten ausgesprochen große Beträge dafür verwenden, dass die Integration der beschränkt Arbeitsfähigen in die Welt der Arbeit verwirklicht wird.«

In der ungarischen Öffentlichkeit ist der Skandal um den staatlichen Umgang mit eingeschränkt Arbeitsfähigen fast unbeachtet geblieben. Lediglich Bernadette Szél, Abgeordnete der Oppositionspartei LMP, stellte dem zuständigen Minister Mitte Februar schriftliche Fragen. Sie erhielt eine lange Antwort des Wirtschaftsministeriums, derzufolge die betreffenden Personen nur wegen »einer eigenen Schuld« aus dem Register ausgeschlossen werden könnten. 
Die Realität sieht anders aus. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bekämpft die Armen anstatt der Armut. Viele seiner Äußerungen entstammen der sozialdarwinistischen Ideologie, die zurzeit auch von Rechtsextremisten in Europa verbreitet wird. Die Ansicht, dass die Armen, Arbeits­losen und Obdachlosen nicht unter der gesellschaftlichen Lage litten, sondern ihr Elend selbst gewählt hätten, wird nicht nur von Fidesz-Politikern geäußert, sondern leider auch von sehr ­vielen Ungarn geteilt.

Der Umgang mit den Armen entspringt einer spezifischen Auffassung von Staat und Gesellschaft. Orbán verwirklicht kontinuierlich seine Vorstellungen eines Mafiastaats.

Der Umgang mit den Armen entspringt einer spezifischen Auffassung von Staat und Gesellschaft. Orbán verwirklicht kontinuierlich seine Vorstellungen eines Mafiastaats, den er als System der »nationalen Zusammenarbeit« (NER) im Juni 2010 vom Parlament absegnen ließ. Die NER spiegelt die nationalistische Ideologie wider, von der momentan ein großer Teil der Bevölkerung begeistert ist. Im Fall von Konflikten beruft sich die Regierung auf NER, um Kritiker als »antinational« und »Vaterlandsverräter« zu brandmarken. Bereits 2012 sagte Orbán: »Unser Programm ist es, dass wir statt eines Wohlfahrtstaats westlicher Prägung, der nicht konkurrenzfähig ist, eine Gesellschaft auf Grundlage der Arbeit entwickeln.« Seither liquidierte die Regierung sukzessive den Sozialstaat. Von allen Ländern der EU war dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) zufolge Ungarn im Jahr 2014 der Staat mit dem dritthöchsten Anteil von Armen: 40 Prozent der ungarischen Bevölkerung zählten dazu, also etwa vier Millionen Menschen. Von den 1,8 Millionen ungarischen Kindern lebt Eurostat zufolge jedes dritte in ­Armut. Zurzeit gelten in Ungarn zudem ungefähr 180 000 Kinder als armutsgefährdet.

Dass 40 Prozent der Ungarn unter dem Existenzminimum leben, bedeutet nicht, dass alle diese vier Millionen Menschen hungern, sondern dass sie über keinerlei Ersparnisse verfügen. Ihre Lebensumstände machen die Armen apathisch. Die Regierung muss deshalb nicht mit großem Widerstand rechnen, wenn sie versucht, die gesellschaftliche Not mit statistischer Zauberei zum Verschwinden zu bringen. So weist das ungarische Amt für Statistik die Armutsquote und Angaben zum Existenzminimum einfach nicht mehr aus. Um die Arbeitslosenstatistik zu schönen, koppelte die Regierung die finanzielle Unterstützung für Arbeitssuchende an die Ableistung gemeinnütziger Arbeit. Wer in dieses System gerät, muss in der Regel mit der Verletzung der eigenen Menschenwürde rechnen, weil diese Einrichtungen in der Provinz, wo die meisten Armen leben, von »kleinen Königen« nach Gutdünken verwaltet werden. Unter dem Befehl von Bürgermeistern oder kleinen Beamten sind Willkür und Nötigung alltäglich.

Die bekannte ungarische Soziologin Zsuzsa Ferge findet es empörend, dass Fidesz den sozialen Mindestschutz abschafft. In ihrem demnächst erscheinenden Buch »Sozialpolitik 1990 – 2015« macht sie unter anderem auf ein besonderes Gesetz aufmerksam. So gibt es in Ungarn kein Armutsbegräbnis mehr, sondern ein »soziales Begräbnis«. Hinterbliebene, die die regulä­ren Gebühren nicht bezahlen können, sind gesetzlich gezwungen, die Leiche selbst zu waschen und das Grab auszuheben.