Schwerbehinderte protestierten für die Übernahme von Assistenzkosten in Berlin

Assistenz muss sein

Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ließ die Rechnungen für die Assistenz von Schwerbehinderten im Krankenhaus über einen längeren Zeitraum unbezahlt. Schwerbehinderte, Assistenten und Unterstützer haben dagegen protestiert – und einiges erreicht.

Unerwarteten Besuch erhielt das Rathaus des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg am Dienstag voriger Woche. Etwa 50 Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen und Assistenzbedarf sowie ihre Assistenten, einige Unterstützer, die Geschäftsführungen von Ambulante Dienste e. V. (AD) und Lebenswege e. V. protestierten in dem Gebäude. Sie forderten die Begleichung offener Rechnungen für die Assistenz im Krankenhaus. AD bietet seit über 35 Jahren Menschen mit körperlichen Behinderungen durch sogenannte persönliche Assistenz die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zurzeit gibt es etwa 100 Assistenznehmer und 600 Assistentinnen und Assistenten in Berlin. Die Kosten hierfür tragen die Bezirksämter und Pflegekassen. Doch die Bezahlung der Assistenz während eines Krankenhausaufenthalts ist nicht selbstverständlich, da die Klinik dem Gesetz zufolge die Vollversorgung sicherstellen muss.

Für viele Schwerbehinderte ist eine Assistenz im Krankenhaus nötig, da sie nicht selbständig mit dem Pflegepersonal sprechen können.

Menschen mit Assistenzbedarf, die das Arbeitgebermodell nutzen, also ihre Assistenten selbst anstellen und entlohnen, ist es bereits seit 2009 erlaubt, sich von ihren Assistenten im Krankenhaus begleiten zu lassen. Kunden von Assistenzdiensten können das nicht ohne weiteres. Sie sind abhängig von der Zahlungsbereitschaft des ­jeweiligen Bezirksamtes – obwohl das Land Berlin bereits Anfang 2016 eine Entgeltvereinbarung abgeschlossen hat, derzufolge die Assistenz im Krankenhaus zumindest anteilig finanziert wird.

»Das war bundesweit ein Novum, denn bisher gab es das nur für behinderte Menschen, die ihre Assistenten selbst anstellen«, sagt Ursula Aurien, Vorstandsmitglied von AD. »Leider weigerte sich Friedrichshain-Kreuzberg, entsprechende Rechnungen zu be­zahlen. Das heißt, Ambulante Dienste leistet gegebenenfalls vor und erhält keine Gegenfinanzierung. Damit entstehen nicht unerhebliche Kosten, die nicht gedeckt sind.« Derzeit seien in ganz Berlin gut 43 000 Euro offen, sagt Aurien.

Grund für Protest bestand also. In dessen Verlauf blockierten die Rollstuhlfahrer zeitweilig den Eingang des Rathauses. So kam niemand mehr ­hinein oder hinaus. Das führte bei Besuchern, die etwas erledigen mussten, teilweise zu Unverständnis und emotionalen Reaktionen. Aurien zufolge versuchten einige Leute, über die Rollstuhlfahrer zu klettern, um doch in das Gebäude zu gelangen. »Einige reagierten sehr schnell ziemlich aggressiv. Eine Frau im Faltrolli wurde an den Rolligriffen gepackt, um sie vom Eingang wegzuziehen. Der Mann quetschte sich dann, unsanft und ohne Rücksicht auf Verluste, an ihr vorbei.«

Insgesamt verlief die Blockade jedoch ohne große Zwischenfälle. Mit ihr sollte der Druck auf den Bezirksstadtrat für Soziales und stellvertretenden Bezirksbürgermeister, Knut Mildner-Spindler (Linkspartei), erhöht werden, der an diesem Tag nicht im Haus war. Er selbst lud die Beteiligten zu einem Gespräch am Donnerstag voriger Woche ein. Uta Wehde, der Geschäftsführerin von AD, zufolge verlief dieses in sehr ruhiger und konstruktiver Atmosphäre. Sie verwies darauf, dass für Menschen mit Behinderung die Assistenz im Krankenhaus erforderlich sei, um überhaupt eine Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen zu können. Prinzipiell sei das eine Frage der Grund- und Menschenrechte.

Für viele Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen ist eine Assistenz rund um die Uhr auch im Krankenhaus unabdingbar, da sie wegen ihrer Behinderung nicht selbständig mit dem Pflegepersonal kommunizieren können. Häufig werden sie nur von Menschen verstanden, die sie länger kennen und mit ihren Bedürfnissen vertraut sind. Auch für Friedrich Bauer, Assistenznehmer bei AD, ist ein Aufenthalt im Krankenhaus nur mit Assistenz möglich. Der 26jährige hat eine Muskeldystrophie des Typs Duchenne, die progressiv voranschreitet und letztlich zu einer vollständigen Körperlähmung führt. »Im Krankenhaus wurde ich nur mit Assistenz ­aufgenommen«, sagt er. »Fehlende Assistenz kann zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Bei mir besteht die Gefahr, dass ich beim Verrutschen meines Kopfes ersticke.« Er habe keinerlei Möglichkeit, sich zu bewegen, und könne weder die Klingel drücken noch rufen, weil die Kraft fehle.

Der Protest zeigte offenbar Wirkung. Am Tag danach tagte die Bezirksverordnetenversammlung und fasste nach einem Eilantrag einen einstimmigen Beschluss: Die Rechnungen für Friedrichshain-Kreuzberg sollen umgehend bezahlt werden. Auch Bezirksstadtrat Mildner-Spindler zeigte sich in dem Gespräch mit Assistenznehmern, Geschäftsführungen und anderen Organisationen am Donnerstag einsichtig. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es falsch war, die rechtliche Auseinandersetzung darüber so zu führen, dass die schwerbehinderten Menschen und deren Assistenten, denen das Land einen Leistungsanspruch zugesichert hat, in Mitleidenschaft geraten.« Dementsprechend sagte er die Bezahlung der offenen Rechnungen rückwirkend ab dem 1. Januar 2016 für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu – unter Vorbehalt des Ausgangs der rechtlichen Klärung. Zudem bestätigte Mildner-Spindler, dass ein Gesprächstermin mit dem Land Berlin bereits vereinbart sei, um die Diskussion auf anderer Ebene weiterzuführen.
Für Ursula Aurien war die Blockade ein Erfolg. Sie hofft nun, dass auch die anderen Bezirke nachziehen. Es fehlt jedoch weiterhin eine allgemeine gesetzliche Regelung der Finanzierung im Krankenhaus, die Assistenz für alle sicherstellt, die sie brauchen.