Die Verfolgung von Homosexuellen in Tschetschenien

Verfolgt von Staat und Familie

In Tschetschenien werden Homosexuelle inhaftiert und gefoltert. Wenn sie von Familienangehörigen ermordet werden, gilt das den Behörden als Privatangelegenheit.

Beim Begriff »Ehrenmord« denkt man zunächst an weibliche Opfer. Zu Recht, doch der Verhaltenskodex in tschetschenischen Familienverbänden sieht Vergeltungsakte auch für einige männliche Verstöße gegen den Ehrbegriff vor. Werden etwa von heterosexuellen Norm abweichende Neigungen publik, bleibt Homosexuellen oft nur noch eines: die Flucht. Die eigene Familie wird dann zu einer größeren Gefahr für Leib und Leben als der tschetschenische Repressionsapparat.
Doch auch die Behörden bleiben nicht untätig. Als die russische Zeitung Novaya Gazeta am 1. April über eine regelrechte Hetzjagd der Polizei auf Homosexuelle, willkürliche Festnahmen und mehrere belegte Todesfälle in der Nordkaukasus-Republik berichtete, tat der Leiter der Presseabteilung des tschetschenischen Innenministeriums die als »Aprilscherz« ab. Sein Kollege Alwi Karimow, der Pressesprecher von Präsident Ramsan Kadyrow, sprach von einer Lüge. Es sei unmöglich, jemanden festzunehmen und zu misshandeln, der gar nicht existiere – Homosexuelle, so Karimows implizite Botschaft, gebe es in Tschetschenien nicht. Und falls doch, dann falle es in die Zuständigkeit der Familie, die Homosexuellen dahin zu schicken, von wo es keine Rückkehr mehr gibt. Heda Saratowa, ein Mitglied des tschetschenischen Menschenrechtsrats, stellte klar, dass jedes Gericht in der Republik Verständnis für das Vorgehen der Verwandtschaft aufbringen würde. Aber so weit komme es gar nicht. Die Gesellschaft verachte Homosexuelle und Familienverbände hüteten ihr Wissen um Rache in den eigenen Reihen wie ein Staatsgeheimnis. Sie selbst jedenfalls würde sich solcher Belange nicht annehmen.
Ende Februar nahm die tschetschenische Polizei einen Drogenkonsumenten fest und untersuchte zuallererst dessen Telefon und die gespeicherten Kontaktdaten. Anhand von Videos und Bildmaterial identifizierte sie den Mann als homosexuell und suchte jene Personen auf, mit denen er telefonisch in Verbindung stand. Die Informationen gelangten an eine der gefürchtetsten Personen in Tschetschenien, Magomed Daudow, den Parlamentsvorsitzenden. Es folgte eine regelrechte Verfolgungswelle. Über 100 Männer landeten in einem Geheimgefängnis in Argun, in dem sich neben Drogenabhängigen auch jene in Haft befinden, die in Verdacht stehen, Kontakt zu Islamisten in Syrien oder deren Angehörigen zu halten oder selbst Rückkehrer zu sein. Misshandlung und Folter gehören in dem Gefängnis zu den alltäglichen Verhörmethoden. Die Handys der als homosexuell eingestuften Gefangenen blieben angeschaltet, um weitere Verdächtige zu identifizieren. Seinen Peinigern entkommen konnte nur, wer ein hohes Lösegeld zahlte oder andere verriet. In manchen Fällen wurden die Beschuldigten dann an ihre Verwandten übergeben.

Über das Russische LGBT-Netzwerk erging kurz vor der Publikation in der Novaya Gazeta ein Aufruf an Betroffene, sich zu melden und von ihren Erlebnissen zu berichten. Rückmeldungen ließen nicht lange auf sich warten. Manche hatten es bis ins Ausland geschafft, andere halten sich in Russland oder in Tschetschenien versteckt. Einige der Zeugenaussagen wurden anonym veröffentlicht. Zwei Jahre lang führte ein junger Mann ein Doppelleben und heiratete, um den Schein zu wahren, aber die Polizei erpresste ihn und verlangte monatliche Abgaben, was sie nicht von Gewaltanwendung abhielt, um so weitere Namen zu erhalten. Den Eltern trat der Mann erst wieder unter die Augen, nachdem sich die Blutergüsse etwas zurückgebildet hatten. Er habe sich geprügelt, so seine Ausrede. Schließlich floh er nach Moskau, aber dort spürte ihn die Polizei auf. Er hätte sich das Leben genommen, wenn er nicht von Dritten bei seiner Flucht ins Ausland unterstützt worden wäre.

Seit dem von tschetschenischen Killern verübten Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow vor zwei Jahren hat die Repression in der Republik generell zugenommen. Anfang März meldeten Nikolaj Aleksejew und sein Projekt GayRussia.ru an vier Orten im Nordkaukasus eine Gay Pride an, was zu Gegendemonstrationen und erneuten Festnahmen führte. Die Verfolgungskampagne soll offenbar den Kampf für LGBT-Rechte unterbinden.