Das emanzipatorische Moment der neuen Revolten

Einmal um die Welt

Platzbesetzungen und soziale Medien haben 2011 das Erscheinungsbild einer globalen Revolutionswelle bestimmt, die sich bis heute auswirkt.

Es gleicht einem gewaltigen Natur­ereignis, wenn der Funke der Revolution überspringt und über Staatsgrenzen hinweg um sich greift. Um eine globale Revolte beschreiben zu können, greift man notgedrungen auf Metaphern jenseits des Gesellschaftlichen zurück: Lauffeuer, Kettenreaktion, Tsunami. Zuletzt zu beobachten in einer an Gleichzeitigkeit grenzenden zeitlichen Dichte und Rasanz im Jahr 2011, als der Ruf nach Revolution um die Welt ging. Als der Staub sich gelegt hatte, waren diese Revolutionen nicht unbedingt besonders erfolgreich gewesen, aber die Welt war eine andere. Neue Kommunikationsmittel und Kampfformen hatten sich etabliert, mancherorts war eine darbende Linke zu neuem Leben erwacht. Aber auch neue Bewegungen der äußersten Rechten erstarkten, nicht selten als Begleiterscheinung, wenn nicht als Gegenbewegung. Die globale Kräfteverschiebung wirkt fort bis in die Gegenwart.

Ihr emanzipatorisches Moment und ihre revolutionäre Sprengkraft verdankten die Platzbesetzungen der antiautoritären Stoßrichtung ihrer Anfangsphase im Nahen und Mittleren Osten.

Die Metapher des Frühlings lag damals auf der Hand – erinnerten die Ereignisse doch nicht zuletzt an den sogenannten »Frühling der Völker«, also jene Mischung aus bürgerlichen und sozialen Revolutionen von 1848, in denen Marx das Gespenst des Kommunismus umgehen sah und den »Prager Frühling«, der das weltweite Aufstandsjahr 1968 einleitete. Jene arabischen Aufstände »Frühling« zu nennen, missfiel allerdings dem palästinensischen Journalisten Rami Khouri – nicht etwa, weil er den Verlauf der Ereignisse in Ägypten, Syrien oder Jemen damals schon vorausgeahnt hätte, sondern weil er darin nur den ewigen Orientalismus westlicher Beobachter sah.

Dabei musste man schon ein ganz besonders abgebrühter Misanthrop sein, um in dem Moment, als die kleptokratischen und sklerotischen Dikaturen der arabischen Welt ins Wanken gerieten, nicht an einen frischen Luftzug und ein jähes Aufblühen zu denken. Seitdem haben Proteste in der ganzen Welt Erscheinungsbild und Kommunikationsmittel dieser Revolten übernommen. Das zeigt nicht nur, dass sie auf der Höhe der Zeit waren, sondern auch, dass sie inspirierend wirkten und unter gänzlich anderen gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen Hoffnungen weckten.

Revolutionen wirken wie das Wunder des unverhofften, aber umso länger herbeigesehnten Frühlingsbeginns, oder besser noch jener in den langen Trockenperioden unscheinbaren Wüstenpflanzen, aus denen nach einem Regenerguss völlig unerwartet die knallbuntesten Blüten hervorschießen. Letzteres passiert nämlich weit weniger zyklisch und absehbar als der Wechsel der Jahreszeiten – eben wie eine Revolution. Bevor eine ausbricht, kommt auf die wenigen, die es vorher schon ahnten, eine Heerschar von Politikberatern, die tagein, tagaus erklären, dass alles immer so bleiben wird, wie es ist. Wenn es dann anders kommt, verfallen diese in hektische Betriebsamkeit und produzieren im Handumdrehen Erklärungen: hohe Jugendarbeitslosigkeit, verbreitete Unzufriedenheit, verkrustete Institutionen, nicht erfüllte Versprechen der politischen Klasse und Innovationen in der Informationstechnologie. Hinterher soll alles logisch gewesen sein, ja unausweichlich.

Als 2009 im Iran Millionen auf die Straße gingen, um anlässlich einer unmittelbar ersichtlichen Wahlfarce zu protestieren, schien dies zunächst nicht den Charakter eines globalen Phänomens zu haben. Innerhalb einer einzigartigen Staatsform, jenem skurrilen Gebilde aus religiös begründetem Autoritarismus mit pseudodemokratischen Elementen, hatte ein nicht unbedeutender Teil einer überwiegend jugendlichen Bevölkerung die Nase voll von staatlicher Dauerbevormundung und mangelnden Perspektiven. Sprachrohr und weltweit zuvorderst wahrgenommener Repräsentant der Islamischen Republik war ihr im Juni 2009 zur Wiederwahl stehender Präsident Mahmoud Ahmadinejad, der im kommenden Mai nach Jahren in der politischen Versenkung offenbar ein Comeback versuchen wollte. Sein autoritärer Populismus, flankiert von einer stets provozierenden, an Tatsachen wenig interessierten und rationalen Argument weitgehend unzugänglichen Rhetorik, wirkte wie eine anachronistsiche iranische Besonderheit. Ein Faschist an der Regierung im 21. Jahrhundert – das war so absonderlich, dass allein der Vergleich vielen obszön schien. Das galt schon zu Zeiten von US-Präsident George W. Bush, dem seit den Kriegen in Afghanistan und Irak häufig unterstellt wurde, als nächstes den Iran angreifen zu wollen; erst recht aber angesichts der anfangs von großen Hoffnungen geprägten Präsidentschaft Barack Obamas.

Nicht von ungefähr stilisierten die Anhänger von Ahmadinejad dessen Herausforderer Mir Hussein Mousavi, der außer dem zweiten Vornamen wenig mit dem frisch vereidigten US-Präsidenten gemein hatte, zu einem »iranischen Obama«. Hätte damals jemand behauptet, dass ausgerechnet in den Vereinigten Staaten nur wenige Jahre später ein Kandidat vom populistischen Schlage Ahmadinejads Präsident werden würde – man hätte dem kaum mehr Glauben geschenkt als nur etwas mehr als ein Jahr zuvor der Vorstellung, ein Schwarzer könne in absehbarer Zeit Präsident der USA werden.

Heute hingegen wirkt, was man im Iran beobachten konnte, wie der erste fallende Stein einer Dominoreihe. Der Aufstand im Iran war niedergeschlagen, die Aufständischen waren eingesperrt oder aus dem Land gejagt und ihre wenig einsatzfreudigen Gallionsfiguren unter Hausarrest, da brach er anderorts wieder aus, und zwar noch heftiger als zuvor. Auf Tunesien folgten innerhalb kürzester Zeit Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien, alles live zu verfolgen auf Twitter und Youtube. Als es dann auch in westlich geprägten Gesellschaften, in Griechenland, Spanien, Israel und mit der Besetzung des New Yorker Zuccotti Park auch in den Vereinigten Staaten, zu Platzbesetzerbewegungen kam, wirkte es, als sei eine Welle über die Kontinete hinweggeschwappt. Die Motive der Proteste waren gänzlich andere und hatten im Wesentlichen mit den Folgen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 zu tun. Umsturz stand hier nicht auf der Tagesordnung. Während in den arabischen Aufständen zumindest in ihren Anfängen der Kampf gegen autoritäre Regierungen im Vordergrund stand, spielte das in westlichen Ländern keine Rolle. Dabei drohte der Revolte etwas Entscheidendes verloren zu gehen: Ihr emanzipatorisches Moment und ihre revolutionäre Sprengkraft verdankten die Platzbesetzungen der antiautoritären Stoßrichtung ihrer Anfangsphase im Nahen und Mittleren Osten.

Damals rieb man sich die Augen und fragte: »Woher kommt das alles auf einmal?« Mittlerweile stellt sich angesichts der verbreiteten Euphorie jener Zeit die Frage, was von der Revolte geblieben ist. Wer damals auf der Linken den globalen Aufbruch begrüßte, findet sich nun in einer erschreckend düsteren Welt wieder, in der das Modell Ahmadinejad zum Modell Erdoğan und Trump mutiert ist, reaktionäre Bewegungen in ganz Europa sich im Aufwind befinden und von Euphorie nichts mehr zu spüren ist. Dabei war in den Revolten selbst meist schon die Negation ihres emanzipatorischen Potentials ebenso enthalten wie die Möglichkeit von dessen Entfaltung. Während es zumeist eher linke Akteure waren, welche die Platzbesetzungen initiierten, waren diese Ereignisse auch dank der Spontaneität, die ihren Reiz ausmachte, politisch sehr heterogen. Wo sie Anschluss finden konnten, tauchten immer auch Vertreter der politischen Rechten auf, vor allem wenn sie denselben Feind hatten. Das wurde nirgends so deutlich wie in Ägypten, wo die Muslimbruderschaft schnell die Gelegenheit ergriff, die Revolte für ihre eigenen politischen Zwecke zu nutzen – wohin dieser Weg potentiell geführt hätte, wenn er nicht durch den Militärputsch von 2013 ein jähes Ende gefunden hätte, demonstriert anschaulich das Beispiel Recep Tayyip Erdoğans in der Türkei. Auch ihn hat man einmal als gemäßigten und demokratischen Islamisten bezeichnet. Drastischer noch fiel das Ergebnis in Libyen und Syrien aus, wo die Revolte zwar andauerte, aber zur Beute von al-Qaida-Ablegern wurde, aus denen wiederum der »Islamische Staat« (IS) hervorging.

Mit der Gezi-Park-Bewegung in der Türkei kehrte die Revolte nicht nur gewissermaßen wieder in die Region ihres Ursprungs zurück, sondern in Form eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses gegen die Erdoğanisierung des Landes auch zu ihren antiautoritären Wurzeln. Für die Euromaidan-Bewegung in der Ukraine wiederum war der Widerstand gegen Autoritarismus, in diesem Fall den von Janukowitsch und Putin, zumindest zunächst entscheidend.

Von »Occupy« ging vielerorts eine aktivistische Revitalisierung der Linken aus, die sich in antirassistischen Bewegungen von Ferguson, Missouri, bis zu den Flüchtlingsprotesten in Europa niederschlug. Eine Folge war sicher auch der Erfolg des Sozialisten Bernie Sanders bei den US-Präsidentschaftsvorwahlen, der allerdings inzwischen völlig unter den Schatten einer autoritären Gegenrevolte gefallen ist.
Mit dem einsetzenden Trumpism und dem breiten Widerstand dagegen, der von der radikalen Linken bis zu »Never Trump«-Neokonservativen wie Max Boot reicht, schließt sich gewissermaßen der Kreis, der von der iranischen Twitter-Revolution ausging. Donald Trump wirkt heute wie eine amerikanische Mimikry des Modells Ahmadinejad. Bei allen weltanschaulichen Differenzen gleicht sich die Methode fast aufs Haar: Nationalchauvinistischer Populismus, provokative und faktenfreie Rhetorik sowie Anti-Establishment-Pose gehören heute zum Grundrepertoire eines neuen Autoritarismus, für den niemand so sehr steht wie Donald Trump, während das iranische Vorbild fast schon in Vergessenheit geraten ist. In Reaktion darauf hat das antiautoritäre Moment wiederum auch Einzug gehalten in die Bewegung, die sich nicht unwesentlich aus der »Occupy«-Erfahrung von 2011 speist.