Der Korruptionsskandal in Brasilien setzt sich fort

Kriminelles Wirtschaftswunder

Gegen den brasilianischen Präsidenten Michel Temer wird wegen Korruption im Amt ermittelt. Zurücktreten will er nicht.

Wieder einmal erschütterte ein Skandal die brasilianische Politik. Am Wochenende forderten Hunderttausende Menschen auf den Straßen den Rücktritt des Präsidenten Michel Temer. Anlass war eine am Mittwoch vergangener Woche veröffentlichte Tonbandaufnahme eines Gesprächs zwischen dem Präsidenten und Joesley Batista, dem Eigner des Agrarunternehmens JBS, des größten Fleischproduzenten der Welt. Die Aufnahme legt nahe, dass Temer Batista dazu ermutigt habe, weiter Schweigegeld an seinen Parteikollegen Eduardo Cunha zu zahlen, den ehemaligen Präsidenten des Abgeordnetenhauses, zu zahlen, damit dieser weiterschweigt.

Cunha sitzt seit Oktober vergangenen Jahres im Gefängnis und ist wegen Korruption zu über 15 Jahren Haft verurteilt. Er hätte ohne Zweifel viel zu erzählen über die horrenden Be­stech­ungs­zahlungen, die von Erdöl-, Bau- und Agrarunternehmen an Politiker aller Parteien geflossen sind und zu denen die Justiz im Rahmen der Operation »Lava Jato« (Autowaschanlage) ermittelt.

Nun hat der Oberste Gerichtshof ein Verfahren gegen den Präsidenten wegen Korruption und Behinderung der Justiz im Amt eingeleitet. Die Opposition forderte seinen Rücktritt, ein Amtsenthebungsverfahren wurde beantragt. Temer weist alle Vorwürfe von sich und äußerte am Freitag vergangener Woche, dass er nicht daran denke zurückzutreten.

Wieso sollte er auch? Er könnte nur verlieren: Sein Amt garantiert ihm Immunität, er muss sich nur vor dem Obersten Gerichtshof verantworten. Auf dessen personelle Zusammensetzung kann er als Präsident Einfluss nehmen. Vor einem Amtsenthebungsverfahren muss er wenig befürchten, das Regierungslager hat eine komfortable Mehrheit im Kongress.

Wegen dieser Haltung haben immer mehr Menschen in Brasilien den Eindruck, alle etablierten Politikerinnen und Politiker seien korrupte Verbrecher. Allerdings profitieren von dieser Stimmung politische Außenseiter wie der rechte ehemalige Offizier Jair Bolsonaro, der unter anderem eine Militärdiktatur befürwortet, oder der Unternehmer João Doria Júnior. Sie geben sich als »unpolitische Politiker«.

Weniger Empörung verursacht die Tatsache, dass die Korruption auch von den Unternehmen ausgeht. Die Ermittlungen zeigen, dass die gefeierten Erfolge der Agrarindustrie und Bauwirtschaft auf Korruption und staatlicher Bevorzugung basieren. Der Fleischproduzent JBS konnte nur durch nicht regelkonform vergebene Kredite der staatlichen Entwicklungsbank BNDES Tausende Schlachthöfe bauen und Konkurrenten aufkaufen. Auch der Baukonzern Odebrecht, der im Zentrum der Korruptionsermittlungen steht, profitierte von öffentlichen Aufträgen und Krediten. 82 Prozent der Auslandskredite, die die BNDES in den vergangenen zehn Jahren vergeben hatte, standen in Zusammenhang mit Bauprojekten von Odebrecht – flossen also als Gewinn an das Unternehmen, mit dem es dann wieder die Politik schmieren konnte. Das brasilianische Wirtschaftswunder nach der Jahrtausendwende war eine gigantische Umverteilung öffentlicher Gelder.

Alle Parteien – auch die linke Arbeiterpartei (PT) – waren an dieserm Korruptionssystem beteiligt. Um das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen wiederherzustellen, wäre ein grundlegender Wandel notwendig anstelle eines bloßen Regierungswechsels. Aber um die bisherigen Machthaber  wirklich herauszufordern, müsste der Druck von der Basis noch viel stärker werden.