In Österreich wird über die politischen Hintergründe eines Doppelmords gestritten

Der Doppelmord und die Reichsbürger

Am 29. Oktober erschoss ein Mann in der Steiermark zwei Menschen und ist seither auf der Flucht . Die paranoide Weltanschauung des mutmaßlichen Täters weist Ähnlichkeiten zu jener der »Reichsbürger« auf. Doch der politische Aspekt des Falls wurde bislang kaum thematisiert.

Stiwoll in der westlichen Steiermark ist ein Dorf mit gut 700 Einwohnern, das an Wochentagen so ausgestorben wirkt wie alle anderen Dörfer, in denen Menschen nur noch wohnen, um zu schlafen. Wer arbeiten muss, einkaufen oder was erleben will, fährt ins 15 Kilometer entfernte Graz. Am Vormittag des 29. Oktober nahm der 65jährige Friedrich F. ein Gewehr, das er illegal besaß, und schoss mehrmals auf seine Nachbarn. Ein Mann und eine Frau starben sofort, eine weitere Frau wurde schwer verletzt. Seither ist F. auf der Flucht. Die Tat gilt den meisten österreichischen Medien als ein eskalierter »Nachbarschaftsstreit«. F. stritt aber nicht nur mit seinen Nachbarn, sondern mit jedem, sogar mit seinen nächsten Angehörigen. Diese hatten gegen ihn bereits eine Besachwaltung, eine Art Entmündigung, beantragt, weil er sein gesamtes Vermögen in Gerichtsprozesse steckte.

Friedrich F. fühlte sich verfolgt. Da er die vielen Verfahren, die er gegen Nachbarn, Geschäftspartner, Politikerinnen und Beamte führte, nur selten ­gewann, kam er zu dem Schluss, Richter, Staatsanwälte, Medien und Politiker hätten sich gegen ihn verschworen. Er richtete eine Website ein, auf der er Einblick in seine Gedankenwelt gab. Obwohl die Sozialdemokraten in Österreich seit Jahrzehnten nicht mehr den Justizminister stellen, bezeichnete F. das Rechtswesen als »SPÖ-Justiz« und »SPÖ-Justiz-Terror«. Die Medien hießen bei ihm wie bei Pegida und anderen extremen Rechten in Deutschland ­»Lügenpresse«. Zwischen wirren, nicht weiter begründeten Attacken auf die Justiz kommt immer wieder ein rechtsextremes Weltbild zum Vorschein, dessen Sprachgebrauch sich an den der »Neuen Rechten« anlehnt.

Wie es Vordenker von Rechtsaußen seit Jahren in ihren Blogs und Journalen vormachen, griff auch F. zur bauernschlauen Pseudoargumentation, dass die Antifaschisten die wahren Nazis seien und die Vertreter des demokratischen bürgerlichen Staats faschistische Unterdrücker. Wer sich traue, »die Wahrheit« zu sagen, werde als »Nazi oder Ausländerfeind beschimpft«, klagte er in einem Eintrag auf seiner Seite. Im Juni 2016 fuhr F. mit einem Kleintransporter durch Graz, auf dem in großen Lettern »Heil Hitler« prangte. Damit habe er gegen den »SPÖ-Justiz-Terror« protestieren wollen, unter dem es zugehe »wie bei Roland Freisler«, dem berüchtigten Präsidenten des NS-Volksgerichtshofs. Das führte zu einem Verfahren wegen NS-Wiederbetätigung, das jedoch eingestellt wurde.

Während des Prozesses wurde F. von einem Psychiater untersucht, der ihm eine paranoid-schizophrene Persönlichkeitsstörung attestierte, aber keine Gefährlichkeit.

Von seiner Umgebung zusehends isoliert, fand F. im Internet emotionalen und weltanschaulichen Zuspruch bei FPÖ-Politikern und vor allem bei der »Partei des Volkes« (PdV). Die PdV ist dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands zufolge eine »militant-rechtsextreme Gruppe, deren Führungskader sich im Neonazismus bewegen«. Die PdV wettert auf Facebook gegen »die verbrecherische Elite«, »Gutmenschen«, »Überfremdung«, »Islam«, »Lügenpresse« und alle anderen Feindbilder, die Neonazis haben. Wenige Wochen bevor F. zwei Menschen erschießen sollte, demons­trierte er mit der PdV in Graz und trug dabei ein Schild mit der Aufschrift »Links = gefährlich!!!«. Frauen empfand F., wie er auf seiner Website schrieb, als »blöd« und »zickig«. Nicht nur auf seiner Internetseite schreckte F. vor persönlichen Angriffen nicht zurück, wobei er seine vermeintlichen Widersacher aus Politik und Justiz mit Foto und Namen abbildete. Einem Dachdecker, mit dessen Diensten er nicht zufrieden war, drohte er: »Ich weiß, wo deine Kinder wohnen.« Nachbarn und Bekannte erzählen von seiner Streitlust und dass er sich immer verfolgt fühlte.

Im Gasthaus von Stiwoll mutmaßen manche bei einem Bier, Friedrich F. sei direkt nach seiner Tat von sogenannten Reichsbürgern abgeholt worden und würde von diesen versteckt. Das ist womöglich weniger abwegig, als es sich zunächst anhört. Gerade in der österreichischen Provinz ist die Szene der »Staatsverweigerer« und »Reichsbürger« in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Es gibt kaum ein Tal, kaum eine Gemeinde, in der sich nicht mehrere Menschen offen zu der Wahnvorstellung bekennen würden, die Republik Österreich existiere gar nicht, sondern sei eine Firma, die kein Recht dazu habe, exekutive Gewalt auszuüben. Vor allem abgelegene Gegenden scheinen ein idealer Nährboden für diese wahnhafte Variante des Rechtsextremismus zu sein, der inzwischen bis in die Sicherheitsapparate reicht. Erst vor wenigen Monaten musste die Kärntner Polizei einen Verkehrspolizisten entlassen, weil dieser seinen Vorgesetzten in einem Schreiben mitgeteilt hatte, er könne die österreichische Rechtsordnung nicht mehr anerkennen. Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) musste einräumen, es gebe ein wachsendes Problem mit Menschen, die den Staat und seine Institutionen nicht mehr anerkennen. Besonders viele »Reichsbürger« gibt es in der Steiermark und in Kärnten. Ob Friedrich F. wirklich mit diesen verbunden ist, ist noch unklar, doch sein Hass auf die Justiz und die österreichischen Gesetze passt bestens zur Ideologie dieser Gruppen.

Ermittlungen in dieser Richtung führt die Polizei derzeit aber nicht. Oder sie schweigt darüber. Medienberichten zufolge wurde im Haus des mutmaßlichen Täters eine Art Todesliste gefunden. »Zurzeit werden mehrere Personen und Institutionen, abhängig von der derzeitigen Gefährdungslage, verstärkt überwacht«, teilte die Polizei der Steiermark mit. Doch von Razzien bei »Reichs­bürgern« war bislang nichts zu hören. Der Leiter der mit der Fahndung betrauten Spezialeinheit »Cobra«, Bernhard Treibenreif, gab in einer Pressekonferenz zu Protokoll, man gehe von einer »eruptiven«, also nicht geplanten Tat aus. Hundertschaften der Polizei durchkämmen Wälder und sogar alte Bergwerks­stollen. Bei Redaktionsschluss war noch nichts über F.s Verbleib bekannt.

Auch die Berichterstattung der meisten Medien klammert die politische ­Dimension des Falls aus. F. wird als »Querulant« und »Geisteskranker« dargestellt. Obwohl beides wohl nicht unzutreffend ist, greift es doch zu kurz. Viele Kollegen in den Redaktionen geben sich damit aber ebenso zufrieden wie deren Leser. Wo von »paranoider Schizophrenie« und »Entmündigung« die Rede ist, wird nicht mehr nachgefragt, obwohl es sich langsam ­herumgesprochen haben sollte, dass psychische Probleme und politischer Extremismus keine einander ausschließenden Phänomene sind, sondern im Gegenteil einander oftmals bestens ergänzen, wenn nicht bisweilen gar bedingen.