Mittwoch, 18.01.2017 / 12:21 Uhr

Alles umsonst

Von
Björn Casapietra

Heute war Haia hier zum spielen. Ein Mädchen aus der Schule meines Kindes. Die beiden hatten sich schon lange mal zum spielen verabredet. Heute hat es geklappt.

Die Eltern von Haia sind Syrer und die Familie war über Weihnachten bei den Großeltern in Syrien zu Besuch. Als Haia nicht zur Geburtstagsfeier meiner Tochter vor ein paar Tagen erschienen ist, hatten wir uns schon Gedanken gemacht. Aber sie sind dann doch heil wieder angekommen.

Der Vater kommt aus Damaskus und die Mutter aus Homs. Der Vater kam sie heute Abend abholen und blieb ein Moment.

Ein großer, ruhiger, stattlicher Mann mit kahlem Kopf. Er trug eine braune Lederjacke mit Fellkragen, sprach sehr bedacht und leise. Der Mann hat mir gut gefallen.

Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen aber die Kinder spielten noch und wir standen in der Küche rum. Ich fragte ihn, wie die Stimmung in Syrien im Moment wäre. Was er mir sagt, lässt mir den Abend über keine Ruhe mehr.

Er meinte, dass es jetzt niemandem mehr gut ginge. Das Land wäre zerstört, die Städte kaputt, die Menschen tot oder im Gefängnis. Und “alles wäre umsonst gewesen". Dieser Satz blieb mir besonders in Erinnerung. “Das jahrelange Sterben, der jahrelange Krieg, alles umsonst". Der alte Machthaber, der Schlächter seines Volkes Assad, ist der neue Machthaber. Die Rebellen, er nannte sie “Intellektuelle", sind entweder tot oder im Gefängnis.

Sozialisiert in der DDR stelle ich mir sofort vor, wie es bei uns gewesen wäre, als 89 die Bevölkerung auf die Straße ging und durch russische Bomben an der Freiheit gehindert worden wäre. Berlin, Leipzig, Dresden in Schutt und Asche und nichts hätte sich geändert. Die alten Bonzen wäre nach wie vor an der Macht. Genau dieses Szenario beschreibt dieser Mann mir, während er in meiner Küche steht.

Ich fühle mich angeklagt. Das hat nichts mit seinen Worten zu tun sondern mit meinem ganz subjektiven Gefühl. Ich sehe die Schlagzeilen in meinem Kopf. Dass der “Westen versagt hat". Dass Aleppo für immer und ewig die Schande des “nicht eingreifenden Westens” wäre. Dass der auch von mir verehrte Barack Obama seinen Worten und seine Drohung von einer “roten Linie, die überschritten wurde", keine Taten hat folgen lassen.

Ich sehe in Gedanken die Trümmerhaufen dieser einst wunderschönen Stadt. Ich sehe die Kinderleichen durch Assads Giftgasangriffe, ich stelle mir vor, wie eine Fassbombe aussieht und kann mir nicht vorstellen, wie 500.000 Tote aussehen.

Dieser Mann, ruhig und mit sonorer Stimme, führt mir genau das vor Augen, was ich seit Jahren lese und fühle. Dass hier die Menschen im Stich gelassen wurden, das Freiheit und Demokratie wollte. Er nennt die Rebellen: “Intellektuelle". “Studenten” sagt er, die das Land öffnen wollten. Nun haben Assads und Putins Bomben es wohl für sehr lange Zeit wieder geschlossen.

Er sagt noch: “Wir haben jetzt die Wahl, auf der einen Seite die Islamisten und auf der andern Seite Assad. Und von den Intellektuellen sind die einen entweder tot, und die anderen im Gefängnis".

Er hilft seiner Tochter in ihre gelbe Daunenjacke und schnürt ihr die Schuhe zu.

“Hätten wir gewusst, dass es so endet, hätten wir niemals angefangen.”

Normalerweise bleibe ich an der Tür stehen, bis meine Gäste die ersten Stufen runter gegangen sind. Das hat heute mein Kind übernommen. Ich hab mich verabschiedet und ja, beschämt weggedreht.