Verkehr muss Privatsache bleiben

Freiheit auf Rädern

Autofahren gilt schon fast als das neue Rauchen. Doch sowohl die Zahl der Radler als auch die der Autofahrer in Berlin steigt. Beides bedeutet Freiheit. Ein Lobgesang auf den Individualverkehr.
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In Sachen Straßenkampf ist Berlin ja geübt. Doch neuerdings wird nicht auf der, sondern um die Straße gekämpft. Es geht um Mordraser, um Radwege, Rad-Highways, Parkplätze, Parkraumbewirtschaftungszonen – man könnte fast meinen: um Leben und Tod, so erbittert wird gestritten. Radfahrer gegen Autofahrer, Autofahrer gegen Radfahrer. Der Grund ist klar: Berlin wird voller. Jedes Jahr kommen rund 17 000 Kraftfahrzeuge hinzu. Auch die Zahl der Radfahrer steigt seit 2001 kontinuierlich. An einigen Zählpunkten hat sie sich seitdem mehr als verdreifacht. Auch der Öffentliche Personennahverkehr meldet jedes Jahr einen neuen Rekord. 2016 zählte man 1,02 Milliarden Fahrten mit Bahnen und Bussen in Berlin.
Überall Menschen! Und die wollen alle irgendwohin. Ständig! Dass es in Berlin trotz des ganzen Gewusels und Gewimmels 2016 entgegen dem Bundestrend weniger Verkehrsunfälle gab als im Jahr zuvor, widerspricht so stark dem persönlichen Eindruck der Berliner, dass es solche Zahlen kaum ins öffentliche Bewusstsein schaffen, wo sie vielleicht die Gemüter ein wenig beruhigen könnten. Tatsächlich gab es acht Unfalltote mehr als im Jahr zuvor – nämlich insgesamt 56. Statistisch gesehen ist es dennoch um ein Vielfaches wahrscheinlicher, in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern im Straßenverkehr ums Leben zu kommen als in Berlin oder Hamburg.

Mobilität allein stellt keine Freiheit dar, die Hoheit über die eigene Mobilität, die ist es.

In Berlin war Fahrradfahren nie eine Freude. Kopfsteinpflaster, Scherben auf der Straße, rabiate Autofahrer, nur wenige und oft miserable Radwege, dafür jede Menge Fahrraddiebe. Die Berliner waren das gewohnt und fuhren bis vor zehn, 20 Jahren eher wenig Rad. Doch heute liegt Radfahren im Trend: Es gilt als umweltfreundlich und gesund – also genau das Paket aus Gewissensberuhigung und Selbstoptimierung, das derzeit so beliebt ist.
Eine radfreundliche Verkehrspolitik ist also überfällig. Die neue rot-rot-grüne Landesregierung will künftig 51 Millionen Euro jährlich in die Radverkehrsinfrastruktur investieren. Höchste Zeit! Andere europäische Großstädte sind längst viel weiter: Auf den Fahrrad-Highways in Kopenhagen gibt es Überholspuren und grüne Wellen, und wenn man doch mal an einer Ampel halten muss, gibt es eine Trittleiste, so dass man nicht absteigen muss. In diesem Fahrradparadies fahren 50 Prozent aller Einwohner mit dem Rad zur Arbeit oder Ausbildung. Kopenhagen gilt als eine der »lebenswertesten Städte der Welt«. Selbst London plant gerade einen Radschnellweg durch die Metropole.

Dass mehr Menschen Rad fahren wollen und Radfahrer nun verstärkt für ihre Interessen kämpfen, ist eine gute Sache. Radfahren macht weniger Lärm und Dreck als Autofahren. Und ein bisschen Bewegung schadet nicht. Dabei ist das Fahrrad eine relativ junge Erfindung. Es feiert derzeit seinen 200. Geburtstag. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Fahrrad in größeren Industriestädten zum massentauglichen Individualverkehrsmittel. Es ersetzte vor allem das Pferd, auf dessen Rücken der Individualverkehr begonnen hatte. Aber es konnten ja schlecht 2 000 Fabrikarbeiter morgens mit dem Pferd zur Arbeit reiten. Heute gibt es rund eine Milliarde Fahrräder auf der Welt, fast doppelt so viele wie Autos.

Das Fahrradfahren hat Menschen zu einer ungeheuren individuellen Mobilität verholfen, man kann auch sagen: zu Freiheit. Arbeiter waren nicht mehr auf den Arbeitsplatz in der einen Fabrik angewiesen, die sie zu Fuß oder per Bahn erreichen konnten. Für Jugendliche bot es eine Möglichkeit, der Einöde ihres Dorfes zu entkommen. Und für Frauen bedeutete die Eroberung des Fahrrads nicht nur, den Rüschenrock abzulegen und Hosen anzuziehen, sondern auch die Möglichkeit, sich durch die Stadt zu bewegen, ohne blöd angequatscht zu werden. Eine Freiheit, die man vor allem in vielen muslimisch geprägten Ländern bis heute Frauen nicht selbstverständlich einräumen mag. »In einigen der Länder gehören Frauen mit Fahrrad nicht zum gesellschaftlichen Bild, es ist teilweise sogar verboten und wird nicht akzeptiert«, zitiert der Tagesspiegel Olga Sperling vom Interkulturellen Frauentreff, der in Dresden Fahrradkurse für Migrantinnen anbietet.
Ein Fahrrad zu beherrschen, ist auch eine technische Angelegenheit, jedenfalls wenn man es nicht nur fährt, sondern auch repariert und daran herumschraubt. Schraubende Frauen sind also auch Ausdruck der Aneignung einer männlichen Domäne. In Saudi-Arabien ist es Ausdruck emanzipatorischer Bestrebungen, wenn Frauen selbst fahren wollen – dort allerdings Auto, nicht Fahrrad. Denn auch Autos schaffen individuelle Mobilität. Selbst ans Lenkrad zu dürfen, bedeutet für saudische Frauen, sich frei bewegen zu können.
Aber auch ganz grundsätzlich und überall bedeutet ein Auto – mehr noch als ein Fahrrad – die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, nämlich statt wie beim Rad in einem Radius von vielleicht 30, nunmehr in einem von Hunderten von Kilometern. Man kann einfach einsteigen und losfahren, irgendwohin. Der seinerzeit gegen das Tempolimit gerichtete ADAC-Slogan »Freie Fahrt für freie Bürger« ist so abwegig nicht, wenn man ihn nicht auf die Debatte über Geschwindigkeitsbegrenzungen reduziert. Kein Wunder, dass er auch auf Leipziger Montagsdemos vor dem Mauerfall zum Einsatz kam.
Und es ist ja nicht nur die Freiheit, sich irgendwohin bewegen zu können. Man kann im Auto auch rauchen, laut Musik hören und mitsingen, man kann mit seiner eigenen Privatsphäre um sich herum verreisen, muss nicht die miesepetrigen U-Bahn-Gesichter auf dem Weg zur Arbeit ertragen, nicht deren Launen und nicht deren Erkältungen mit nach Hause nehmen, nicht im Eisregen auf den Bus warten. Man kann auch Dinge transportieren: Bierkästen, den Grill, Kinder, Kinderwagen, Koffer, Möbel. Man kann zu zweit, zu dritt, zu fünft darin reisen oder auch nur sitzen, Liebe machen, Korso fahren! Ob Regen oder Hitze, egal. Es ist – sagen wir es frei heraus – saugeil, Auto zu fahren.

Ob Fahrrad oder Auto oder auf Schusters Rappen: Jede Form des Individualverkehrs bedeutet Freiheit. Der Traum des Menschen, so heißt es, sei das Fliegen. Doch er kann ja längst fliegen – und dabei sogar ein Buch lesen und sich von Stewardessen einen Tomatensaft bringen lassen. Dennoch besteht der Traum vom Fliegen fort, denn der Traum des Menschen ist es gar nicht zu fliegen, sondern selbst zu fliegen, und zwar wohin man will und wann man will, »wie ein Vogel« oder wie »Karlsson vom Dach« mit seinem Propeller auf dem Rücken.
Trotzdem wäre es verkehrt, Mobilität und Freiheit zu verwechseln. Die sogenannten Völkerwanderungen waren so wenig das Ergebnis einer freien Entscheidung, wie es der Arbeitsweg aus der Satellitenstadt zur innerstädtischen Maloche ist. Zur Mobilität werden wir meist gezwungen. Eine mobilere Gesellschaft ist nicht automatisch eine freiere, aber die Möglichkeit, mobil zu sein, die ist Freiheit pur. Die Möglichkeit zu gehen und wiederzukommen. Schlechtes Wetter früher: Ernteausfall, Hungermärsche. Schlechtes Wetter heute: Orangen aus Portugal und über Silvester elf Tage Teneriffa. Völkerwanderung und Urlaubsreise – beides ist Mobilität, sie allein stellt keine Freiheit dar. Die Hoheit über die eigene Mobilität, die ist es. Jeder Flüchtling wird es bestätigen. Gewähren Sie Reisefreiheit!

Es gibt natürlich ein Argument gegen das Auto, das nicht so leicht von der Hand zu weisen ist. Jenes, das normalerweise – selbst von Traditionslinken – für das Auto angeführt wird: Fast 800 000 Arbeitsplätze hängen in Deutschland direkt – indirekt circa zwei Millionen – von der Automobilindustrie ab. Ein solche Verschwendung von Arbeitskraft und Lebenszeit, von Ressourcen, kann gesellschaftlich nicht sinnvoll sein. Es gibt definitiv Wichtigeres zu tun!

Wir müssen auch über Ökologie reden. Ein Auto erzeugt Abgase, die sind nicht gesund. Nicht für den Menschen und nicht für die Natur. Das allerdings stimmt für Elektroautos schon nicht mehr. Die sind abgasfrei. Und Lärm machen sie auch nicht. Lärm und Gestank sind also kein Argument gegen Autos, sondern nur eines gegen Verbrennungsmotoren. Was allerdings tatsächlich gegen Elektroautos spricht, ist, dass auch sie Energie benötigen, Strom. Und nicht zu knapp. Er muss erzeugt werden und alle Verfahren, mit denen das derzeit getan wird, ob Atom, Wind, Kohle, Gas oder Biomasse, haben erhebliche Nachteile. Selbst unter Klimagesichtspunkten schneiden Elektroautos nicht gut ab. Berücksichtigt man die derzeitigen durchschnittlichen Emissionen bei der Stromherstellung, stoßen sie so viel CO2 aus wie eine Mittelklasse-Limousine.

Das ist der Stand der Dinge heute. Man könnte nun fordern, Autos abzuschaffen und stattdessen alles für Radfahrer herzurichten, doch sollte man nicht vergessen, dass nicht jeder körperlich in der Lage ist, in die Pedale zu steigen. Nicht jeder wohnt so günstig, dass er alles mit dem Rad erreichen kann und nicht alles kann mit Fahrrädern transportiert werden. Und: manchmal regnet es! Doch es gibt auch den Fortschritt. Aus allen Autobahnen und Straßen könnten zum Beispiel Solaranlagen werden, ohne zusätzliche Flächenversiegelung. Das ist kein Blick in eine ferne Zukunft. In Frankreich werden solche Solarstraßen bereits gebaut. Eines Tages wird man vielleicht am Straßenrand parken und der Wagen wird dabei induktiv geladen.
Aussagen über die Umweltfreundlichkeit eines Verkehrsmittels sind ohnehin heikel. Selbstverständlich ist Fahrradfahren ökologischer als Autofahren. Aber auch eine Milliarde Fahrräder müssen produziert und irgendwann verschrottet werden. Nicht weniger ökologisch ist die Straßenbahn, doch für die setzt sich kaum jemand ein, was die Vermutung nahelegt, dass es vielen Radfahraktivisten vielleicht gar nicht so sehr um Ökologie, sondern eher um ihren Lebensstil geht. Im Übrigen braucht es selbst um zu Fuß zu gehen Straßen, Schuhe, Wegzehrung. Am umweltfreundlichsten ist es, sich gar nicht fortzubewegen. Noch besser, die Menschheit löste sich auf. Das tut sie aber nicht. Im Gegenteil. Neue Ansätze in der Verkehrspolitik sind daher dringlicher denn je.