Der Schleyer, die Tragik und der 20.7.

Das Theaterlexikon des deutschen Widerstands und seine Autoren: Walser, Schirrmacher und Niroumand.

Vor einem Jahr verlieh das schwäbische, ja oberschwäbische Nest Bad Wurzach, um auch einmal im überregionalen Feuilleton zu stehen, dem ehemaligen FAZ-Herausgeber Joachim Fest für sein Buch "Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli" einen Literaturpreis. Martin Walser hielt die Laudatio, und die FAZ druckte sie unter dem Titel "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist des Gehorsams" in der samstäglichen Beilage haargenau am 20. Juli ab. Die Tragödie war der offiziell anerkannte und gewürdigte Teil des Widerstands gegen Hitler, der Geist des Gehorsams war, obwohl zwei Wochen später an derselben Stelle eine preußische Tradition des Ungehorsams auf der Grundlage dreier historischer Beispiele rückwirkend gestiftet wurde, der preußische.

Walser trug die altbewährten Leitgedanken vor: "Sehr wenig" bleibe übrig, "wenn man vom Nationalsozialismus Hitler abziehe", und "so viele Himmlers werden durch einen einzigen Stauffenberg dahin verwiesen, wo sie hingehören, in die Distanz, zu der es keine Temperaturbrücke gibt". Vor allem aber ging es in seiner Rede um die ästhetische Qualität des Widerstands, die erst neuerdings, durch das literarische Verdienst Joachims Fests, so recht erkenntlich und genießbar werde. "Die unendlich unterschiedlichen Regungen des Gewissens, die diesen Widerstand ausmachen, ergeben eine Figurengalerie, die einen an Shakespeares Königsdramen denken läßt."

Es sei ein Vorzug der Festschen "Erzählart, daß Stauffenberg zu einer Figur wird, die es mit den Figuren der Weltliteratur und geschichte, die zum Vergleich taugen, aufnehmen kann". Die weltliterarische und -historische Größe Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer resultiere aus der epochalen Bedeutung des tragischen Gewissenskonflikts, in den ihr militärisches Standesethos einerseits und die Verbrechen des Naziregimes andererseits sie verstrickten. Deshalb bekannte Walser, "ein Buch über den langen Weg zum 20. Juli, in dem das Gewissen der Akteure nicht das Hauptthema wäre, würde ich schnell wieder aus der Hand legen". Ein Unterschied zwischen literarischen und historischen Werken besteht darin, daß man bei letzteren schon vorher weiß, wie die Story endet. Walser betrachtet den Widerstand inzwischen als literarisches Kunstprodukt, denn er hat, als er "dieses Buch jetzt zum zweiten Mal las, einfach bei jeder Attentats- und Staatsstreichplanung gehofft, diesmal gelinge sie".

Wer bisher den Verdacht hegte, Tragödien stammten sämtlich aus der Bühnenliteratur, im wirklichen Leben aber komme lupenreine Tragik einfach nicht vor, der wird von Fest und seinem Interpreten Walser mit der Nase drauf gestoßen: Der 20. Juli 1944 gab uns nicht nur den Gründungsmythos der Bundesrepublik, sondern zugleich eine Nationaltragödie, wie kein Dichter sie sich schicksalsschwerer und konfliktscheppernder hätte ausdenken können.

Tragisch heißt ein Schicksal, das ein Individuum zwingt, sich zwischen zwei gleichberechtigten Werten zu entscheiden und dabei an einem von ihnen schuldig zu werden. Die Männer des 20. Juli gerieten in einen bühnenreifen Gewissenskonflikt, als sie erkennen mußten, daß der Führer, dem sie freudig einen Treueeid geschworen hatten, ein Verbrecher war. Wer sich, anders als die Wehrmachtsoffiziere um Stauffenberg, aus einem Eid, den er Hitler geleistet hatte, einfach kein Gewissen machte, wer auch in jungen Jahren kein Nazi gewesen war und vom Wiederaufstieg Deutschlands kaum begeistert, konnte am Ende, als alles zu spät war, nicht zur tragischen Figur werden. Wer schon 1933 ins KZ ging und ermordet wurde, trug zur Erbauung Fests und Walsers wenig bei. Der kommunistische und der sozialdemokratische Widerstand waren vollkommen untragisch und ästhetisch belanglos. Auch ein Buch über den Attentäter Elser würde Walser wohl "schnell wieder aus der Hand legen". Denn, so spricht der Büchner-Preisträger, "den striktesten und eindrucksvollsten Weg von allen hat Stauffenberg durchgemacht".

Zweifellos zählt auch der von Hanns Martin Schleyer durchgemachte Weg zu den strikteren, führte er den ehemaligen Obersturmbannführer der SS doch zur Präsidentschaft beider Arbeitgeberverbände. Damit auch aus Schleyer ein tragischer Held des Bürgertums werde, brauchte es ein weiteres Kunstwerk samt kongenialer Interpretation. Heinrich Breloer hat, wie Helmut Markwort meint, "ein journalistisches und erzählerisches Kunstwerk geschaffen", nämlich ein TV-Dokumentarspiel über den deutschen Herbst 1977. Und er hat, wie Frank Schirrmacher, Fests Nachfolger im Herausgeberkollegium der FAZ, unter Aufbietung all seiner Bildungsreserven dem besseren Publikum weismachen will, "der Geschichte des Opfers Hanns Martin Schleyer jene Identität und damit jene Tragik zurückgegeben, die beim Zuschauer nach aristotelischer Lehre Mitleid und Furcht auslösen. Mitleid, glaubt man den Zuschauerreaktionen, mit dem Opfer. Furcht aber über den Zuschauer, der man einmal als Beteiligter war und als Betrachter heute wieder ist."

Das "Todesspiel" habe "gezeigt, was Kunst zur Selbstaufklärung beizusteuern vermag" - demnächst auch im Vorabendprogramm. Während der Urlaubszeit war niemand da, den Artikel zu redigieren, deshalb präsentiert Schirrmacher sich endlich wieder im vollen Saft seiner stilistischen Fähigkeiten: "Man kennt die eigentümliche Mischung von Beklemmung oder gar Scham beim Betrachten jahrzehntealter Fotografien."

Die "Tragik Hanns Martin Schleyers" habe "bis zu Breloers Meisterwerk kaum Spuren hinterlassen". Wenn aber Tragik, gar "nach aristotelischer Lehre", überhaupt noch etwas bedeutet und nicht jeder Raubmord schon als Tragödie gilt, dann ist Schleyers Ende, mit Verlaub, keine Spur tragisch. Wie jedem anderen Opfer einer Entführung ging es ihm nur ums Überleben, er mußte keine Entscheidungen treffen, die ihn hätten schuldig werden lassen an irgendeinem respektablen Wert. Er habe nicht die Absicht, sagte er dem damaligen Oppositionsführer Kohl in einem "Tonbandbrief", "lautlos aus diesem Leben abzutreten, um die Fehler der Regierung, der sie tragenden Parteien und die Unzulänglichkeit des von ihnen hochgejubelten BKA-Chefs zu decken". Spricht so ein tragischer Held? Wo bleibt denn die Katharsis, wenn nun schon die Protagonisten der Tragödie, statt freudig sich zu opfern, die legitime Staatsgewalt als fehlerhaft und unzulänglich kritisieren? Nein, zum Nachfolger Antigones oder Stauffenbergs taugt Schleyer nicht. Schirrmacher will halt etwas Nettes über ihn sagen und sein Gebinde mit möglichst kostbaren Wörtern schmücken; aber wie so oft weiß er nicht, was sie bedeuten: "Die Dichtkunst kennt", im Gegensatz zu Schirrmacher, "die Lehre von der poetischen Gerechtigkeit. Breloers ÝTodesspielÜ hat sie hergestellt." Hat es nicht; denn auch am Ende des "Todesspiels" ist Schleyer tot.

Ausgerechnet Mariam Niroumand, die Filmredakteurin der taz, beweist, daß sie den Lernstoff der Sekundarstufe II noch nicht vergessen hat: "Im Grunde war Schmidt Antigone." Denn in seiner Brust tobte der Kampf zweier Wertsysteme: hie Staatsräson, hie das, was Klaus Bölling im Spiegel, Willy Brandt zitierend, "compassion" nennt, "die demokratische Regierungen und die Regierenden zierende Politik angewandter Menschlichkeit". Niroumands richtige Erkenntnis ist aber doch wohl ein Zufallstreffer: "Nur, daß er (Schmidt-Antigone) seinen Bruder begraben mußte, obwohl er sich für Kreon und den Staat, statt für das Blutgesetz entschieden hat." Schleyer war also Polyneikes, der sein Schwert gegen das thebanische Reich erhoben hatte und deshalb den Vögeln zum Fraß bestimmt wurde? Kann das denn hinhauen? War nicht vielmehr Andreas Baader Polyneikes, Schmidt zwar entschieden Antigone ("Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil"), aber eben auch in Personalunion der schreckliche König Kreon? Wer aber war dann, da Arbeitgeberpräsidenten in der antiken Tragödie selten vorkommen, Schleyer?

Soviel jedenfalls scheint gewiß: Schirrmacher, der sich über den Zuschauer fürchtet, ist eine zu hundert Prozent reine Mischung aus Teiresias, dem blinden Seher.