»Die siebziger Jahre befreien«

Der Autonomia-Theoretiker Antoni Negri kehrt nach Italien zurück und geht direkt ins Gefängnis

Als Antonio Negri am ersten Juli mit Alitalia nach Rom reiste, war es kein Flug in die Ferien. Unmittelbar nach der Landung wurde er festgenommen und ins Gefängnis von Rebibbia gebracht. Mit seiner Rückkehr nach vierzehn Jahren Exil in Paris und der freiwilligen Auslieferung an die italienische Justiz, so Negri, erkenne er eine Niederlage an, die "die Niederlage einer ganzen Generation" sei. Seine Selbstauslieferung solle in erster Linie die Kampagne für die Freiheit der politischen Gefangenen und Exilierten aus der Linken forcieren.

Negri, ehemals Professor für Staatstheorie in Padua, war Ende der sechziger Jahre einer der Gründer der operaistisch orientierten militanten Organisation Potere Operaio (Arbeitermacht) und führender Theoretiker der Autonomia in den Siebzigern. Nach dem Schlag des italienischen Staats gegen die linke autonome Bewegung am 7. April 1979 befand er sich unter den insgesamt mehr als 6 000 aus politischen Gründen Verhafteten, die in den folgenden Jahren Italiens Gefängnisse bevölkerten. Aufgrund eines Konstrukts, das in dem bereits 1974 aufgelösten Potere Operaio die ideologische Zentrale der "bewaffneten Partei" sah und zeitweilige Kontakte einzelner Personen als festgefügten Verschwörungsplan auswies, wurde auch gegen Negri Anklage erhoben. In mehreren Prozessen warf man ihm unter anderem vor, Kopf der Roten Brigaden gewesen zu sein, Aldo Moro entführt (und ermordet), einen bewaffneten Aufstand geplant und schließlich (nach seiner Inhaftierung) die Gefangenenrevolte im Gefängnis Trani angezettelt zu haben.

Negri verbrachte viereinhalb Jahre in Sondergefängnissen, bevor er 1983 als gewählter Parlamentsabgeordneter der Radikalen Partei aus der Haft entlassen wurde. Als wenig später das italienische Parlament die Ferien unterbrach, um dem Abgeordneten Negri die Immunität abzuerkennen, entzog er sich einer neuerlichen Festnahme durch die Flucht nach Frankreich. In Abwesenheit wurde Negri zu insgesamt 30 Jahren Haft verurteilt. Verschiedene Gerichte kassierten später einen Teil der Anklagepunkte, so daß in letzter Instanz ein Strafmaß von etwas mehr als 13 Jahren verhängt wurde. Negri, der seit 1983 mit der expliziten Duldung des französischen Staatspräsidenten als, wie er es nennt, "Unperson" in Paris lebte - wie im übrigen viele der weit über einhundert exilierten Militanten aus der autonomen Bewegung Italiens -, droht nun nach seiner Rückkehr eine Reststrafe von knapp fünf Jahren Gefängnis.

"Wenn ich zurückgehe, so geschieht dies, weil ich denke, daß diese allzulange Zeit der Sondergesetze und Maßnahmeregelungen, die Ýbleiernen JahreÜ, zu einem Abschluß gebracht werden müssen." Antonio Negri begründete - noch in Paris - den Schritt, das Exil aufzugeben, vor allem mit der Notwendigkeit einer "politischen Lösung" für politische Gefangene und Exilierte: "In der Anomalie, daß uns in Frankreich linke wie rechte Regierungen gleichermaßen Gastrecht gewährten, ohne jemals den Auslieferungsbestrebungen aus Italien nachzugeben, zeigt sich der zutiefst politische Charakter jener Ereignisse, die sich während der siebziger Jahre in Italien abspielten." Die gesellschaftliche Auseinandersetzung über diese Jahre könne nur jenseits der von der Staatsmacht errichteten Logik des Verrats geführt werden, aber auch jenseits von "humanitären" Gnadenakten, wie sie in der Amnestiedebatte, die das italienische Parlament seit einiger Zeit beschäftigt, bisweilen vorgeschlagen wurden.

Toni Negri datiert seinen Entschluß zur Rückkehr auf den Herbst vergangenen Jahres. Bereits Ende 1995 hatten die in Paris Exilierten die Forderung nach einem Ende der Sonderjustiz formuliert und mit dem Appell zu einer politischen Debatte über die antagonistischen Bewegungen der Siebziger verbunden. Diese Auseinandersetzung propagiert in Italien eine Kampagne unter dem Motto "Die siebziger Jahre befreien", getragen von einigen Centri Sociali (sozialen Zentren) und freien Radios. Die anvisierte politische Lösung schließt demnach alle wegen Subversion und der Bildung bewaffneter Gruppen Verfolgten ein, über 5000 Verurteilte, über 300 Personen im Exil, vor allem aber: Freiheit für alle politischen Gefangenen.

Der italienische Justizminister Giovanni Maria Flick signalisierte bereits Anfang Juli seine Haltung, daß gegen den Terrorismus "eine Schlacht gewonnen wurde und deshalb über die Rückkehr zur Normalität nachgedacht werden kann". Doch ob die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Italien den Erfolg einer Amnestiekampagne zulassen, ist fraglich. Zunächst füllt die Debatte um einen politischen Straferlaß aber die Medien im Sommerloch. Die Lieblingsargumente der bürgerlichen Rechten sind, darauf zu achten, daß man keinesfalls die erst kürzlich verurteilten geschmierten Politiker freilassen und andererseits vor allem nicht die Gefühle der Opfer politischer Gewalt verletzen dürfe. Und die weiterhin gültigen Bedingungen für eine Amnestie werden deutlich gerade in den Zeitungen der staatstragenden Linken benannt: Distanzierung, Abschwören, "Reue" - es waren "reuige" Kronzeugen, auf deren Aussagen und Denunziationen die meisten Urteile gegen linke Militante aufbauten.

Die artikulierte Skepsis und Kritik an Negris Rückkehr in der außerparlamentarischen Linken und autonomen Bewegung ist anders gelagert. Neben politischen Differenzen, die auf die siebziger Jahre zurückgehen, oder dem Verratsvorwurf aufgrund der Aussagen und Erklärungen, die Negri im "7. April"-Prozeß machte, wird der Verdacht geäußert, er könnte mit seiner Prominenz die Aktionen und politischen Stellungnahmen anderer Gefangener zudecken und mit der Rückkehr eine Märtyrerrolle einnehmen wollen.

Toni Negri scheint sich dieser Gefahr bewußt, betonte aber in einem Interview mit seinem langjährigen Freund und Genossen Paolo Virno, daß in der Dämonisierung der subversiven Gewalt "mein Name als negatives Symbol derart überladen wurde, daß man heute glauben kann, eine Lösung für Negri zu finden ist gleichbedeutend damit, eine Lösung für alle zu finden."

Negris Entschluß zur Rückkehr speist sich auch aus seiner Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus, die er in zahlreichen Publikationen der vergangenen Jahre entwickelte. Das Zerbrechen der politischen Repräsentation zwischen neuen gesellschaftlichen Subjekten und der klassischen Linken etwa - trotz der aktuellen Wahlsiege letzterer in England und Frankreich - zeige nicht nur das historische Versagen dieser Linken, sondern eröffne Möglichkeiten selbstbestimmter konstituierender Macht und Kooperation, mithin den Raum für eine soziale Dynamik, "in dem wir eine neue demokratische Praxis erfinden müssen".