Der Lübecker Prozeß

Kein Interesse an Fragen

Der Lübecker Brandprozeß lieferte neue Verdachts- momente gegen die "Grevesmühlener". Doch die Staatsanwaltschaft will die Fährte nicht wieder aufnehmen

Maik W. hat ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis. Anfang 1996 erzählte er einem Kumpel, der mit ihm in der selben betreuten Jugendwohnung untergebracht war, daß er in Lübeck "etwas anstecken" werde oder schon angesteckt habe. Zwei Wochen später brannte das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße. Ein knappes Jahr später wurde Maik W., der sich von seinen Freunden gern "Klein Adolf" rufen läßt, noch deutlicher. Als ihm im mecklenburgischen Güstrow ein Verkäufer, der ihn beim Diebstahl eines Sweatshirts erwischt hatte, mit der Polizei drohte, konterte der kahlgeschorene 19jährige cool: "Polizei, die kann mir gar nichts. Ich war sogar beim Brandanschlag in Lübeck dabei."

Doch Maik W. kann offenbar so oft er will behaupten: "Wir warn's" - Angst, sich damit verdächtig zu machen, muß der Jugendliche deswegen nicht haben. Obwohl er einer der unter dem Sammelbegriff "die Grevesmühlener" bekanntgewordenen vier Männer ist, die schon unmittelbar nach der Tat in Verdacht gerieten, den Anschlag durchgeführt zu haben, tendiert das Interesse der Lübecker Staatsanwälte an seinen Selbstbezichtigungen gegen Null.

Auch die Ermittlungen zu der Güstrower Selbstbezichtigung wurden vom Chefankläger im Lübecker Brandprozeß, Michael Böckenhauer, geschlossen, bevor sie überhaupt aufgenommen worden waren. Weder der Verkäufer noch Maik W. wurden von der Staatsanwaltschaft verhört.

Zwei "schwerwiegende" Gründe führten zur Einstellung der Ermittlungen: Maik W. hatte sich bei seiner Selbstbezichtigung im Datum geirrt und hielt sich als die Ankläger ihn befragen wollten gerade in Bayern auf. Zu weit für die Ermittler. Die recherchierten noch, daß es an dem von Maik W. genannten Tag keinen Brandanschlag in Lübeck gegeben hatte. Dann legten die Ankläger die Akte zu den anderen, denen sie den Stempel "abgearbeitet" verpaßt hatten.

Dort ruht sie auch noch heute, obwohl Maik W.s Aufenthaltsort inzwischen bekannt ist. Wegen zahlreicher "Eigentumsdelikte" wartet der Skin, der sich in der Jugendzimmer eine Reichskriegsflagge an die Wand geheftet hatte, im Neubrandenburger Jugendknast bereits seit dem 10. April auf seinen Prozeß vor dem Güstrower Amtsgericht. Im Knast und vor Gericht würde - zumindest offiziell - die Lübecker Staatsanwaltschaft auch René B. gerne sehen. Der 22jährige Grevesmühlener ist zur Fahndung ausgeschrieben, ein Haftbefehl wegen zahlreicher Autoaufbrüche und -diebstähle liegt gegen ihn vor. So war René B. zusammen mit Maik W. und den gemeinsamen Freunden Dirk T. und Heiko P., auch in der Brandnacht in Lübeck auf Beutetour. Vor Beginn des Prozesses tauchte er ab. Seitdem wird er von den Ermittlungsbehörden erfolglos gesucht.

Bei ihrer Fahndung vergaßen die Ermittler allerdings, dort einmal nachzufragen, wo normalerweise die ersten Erkundigungen nach einer flüchtigen Person eingeholt werden: bei dem für den letzten bekannten Wohnort des Verschwundenen zuständigen Revier. Hauptkommissar Volker Kalwa, Leiter der Polizeidienststelle in Grevesmühlen, findet es zumindest "verwunderlich, daß uns bislang niemand um Unterstützung bei der Suche nach René B. gebeten hat". Dabei hat Kalwa sogar Informationen, daß René B. im Erfurter Raum abgetaucht ist. Doch das scheint die Lübecker Ermittler nicht zu interessieren.

Auch René B. hat sich zu einer möglichen Täterschaft der Grevesmühlener geäußert. Anders als Maik W. bezichtigte er sich allerdings nicht selber der Tat, sondern den dritten im Bunde. "Der Ütz könnte es gewesen sein", diktierte René B. im Juli vergangenen Jahres einer verblüfften Reporterin in die Feder. Zusammen mit ihm, Maik W. und Heiko P. sei auch der den Spitznamen "Ütz" führende Dirk T. in der Brandnacht auf Diebestour in Lübeck gewesen, sei dann aber mit einem schwarzen Golf davongebraust. "Die halbe Nacht haben wir ihn nicht mehr gefunden", gab René B. der Journalistin zu Protokoll.

Daß die Selbstbezichtigungen und gegenseitigen Beschuldigungen die Ermittler nicht motivieren konnten, die Grevesmühlener noch einmal ins Kreuzverhör zu nehmen, erklären diese mit dem Hinweis, der bis in die letzten Prozeßtage hinein vom deutschen Blätterwald von FAZ bis taz willfährig nachgekaut wurde: Das hieb- und stichfeste Alibi der Männer habe bis heute nicht erschüttert werden können. Zur von der Staatsanwaltschaft angenommenen Tatzeit, genauer: Um 3.15 Uhr seien sie samt ihrem Wartburg an einer sechs Kilometer vom Brandort entfernten Tankstelle von einer Polizeistreife gesichtet worden. Auch vier Minuten später wären sie - das soll der Kassenbon beweisen - noch dort gewesen. Ob die Kassenuhr richtig tickte, wurde nie geprüft. Dem Tankwart wurden die Verdächtigen niemals gegenübergestellt.

Das dürfte allerdings auch nicht mehr notwendig sein. Anders als von der Staatsanwaltschaft behauptet, steht die Brandausbruchszeit nicht fest. In seiner Begründung des Freispruchs gegen Safwan Eid erklärte Richter Rolf Wilcken, es stehe lediglich fest, daß der Brand "nach null Uhr" gelegt worden sei. Daß das Feuer stundenlang geschwelt habe, bevor es das Haus in Flammen setzte, sei auch nach den Ausführungen aller im Verfahren gehörter Brandexperten nicht auszuschließen. Das Alibi der Grevesmühlener ist damit definitiv vom Tisch.

Obwohl die Vier im Lübecker Brandprozeß keine Rolle spielen sollten, tauchten sie noch zwei mal im Laufe des Verfahrens auf. Zwei Mitarbeiter der an das Flüchtlingsheim angrenzenden Firma Brüggen sagten aus, zumindest drei Grevesmühlener hätten wenige Meter vom Tatort entfernt bereits zu einem Zeitpunkt den Brand beobachtet, als ansonsten noch keine weiteren Zeugen vor Ort waren. Daß Maik W., Heiko P. und René B., deren Personalien die Polizei kurz darauf an gleicher Stelle aufnahm, tatsächlich zu einer frühen Brandphase in der Hafenstraße gewesen sein müssen, ergibt auch ein Abgleich zwischen der Rekonstruktion des Brandgeschehens und ihren eigenen Aussagen. Demnach müssen sie sich bereits am Brandort aufgehalten haben, als noch nicht einmal Polizei und Feuerwehr angerückt waren.

Und noch ein weiteres Mal spielten die Grevesmühlener im Brandprozeß eine Nebenrolle. Am 51. Verhandlungstag sagten der Lübecker Rechtsmediziner Manfred Oehmichen und seine Assistentin Ivana Gerling übereinstimmend aus, daß die kurz nach dem Brandanschlag an den Haaren von dreien der Vier festgestellten Sengspuren "frisch" gewesen sein müssen. Die versengten Haarspitzen seien schon bei leichter Berührung abgefallen. Hätten sich die Grevesmühlener seit dem Zeitpunkt, an dem sie sich die leichten Verbrennungen zugezogen haben, gewaschen, gekämmt oder durchs Haar gestrichen, wären die angekohlten Haare bereits nicht mehr vorhanden gewesen. Damit widersprachen die MedizinerInnen der Behauptung der jungen Männer, sie hätten sich die Verbrennungen Tage zuvor zugezogen, als sie wahlweise einen Hund abgefackelt, einen Ofen falsch befeuert oder einen Benzinkanister gefüllt und anschließend mit einem Feuerzeug ausgeleuchtet haben wollen.

Anders als bei Safwan Eid weisen die Sengspuren bei Maik W., Dirk T. und René B. für Manfred Oehmichen das "typische Bild auf, wie wir es immer wieder bei Brandstiftern finden, die mit Brandbeschleunigern hantiert haben". Ivana Gering wies das Landgericht darauf hin, daß sie bei allen drei Tatverdächtigen Proben der versengten Haare genommen, diese beschriftet und der Kripo zur Verfügung gestellt hätte. Dort aber verschwanden die Aservate - wie andere auch - unter ungeklärten Umständen.

Nach Ende des Prozesses gegen Safwan Eid betonte Staatsanwalt Michael Böckenhauer erneut, daß die Ungereimtheiten und Lücken, die der Ermittlungs-Quickie gegen die Grevesmühlener hinterließ, für ihn kein Thema seien. Es bedürfe schon "neuer Spuren, die uns zu den Tätern führen". Daß die Grevesmühlener Jungmänner mit der deutschen Gesinnung am 19. Januar nur wenige Stunden nach ihrer Festnahme wieder freigelassen wurden, lag nach am 22. März verbreiteten Informationen der FAZ nicht zuletzt daran, daß der inzwischen abgelöste schleswig-holsteinische Generalstaatsanwalt Heribert Ostendorf "darauf drang". Safwan Eids Verteidigerin Gabriele Heinecke kann sich bis heute die konsequente Verweigerungshaltung der staatsanwaltschaftlichen Ermittler nicht erklären: "Ich hoffe, daß ihr Motiv für dieses Vorgehen irgendwann einmal bekannt wird."