Der Lübecker Prozeß

Tatmotiv verzweifelt gesucht

Schon dem ersten Haftbefehl gegen Safwan Eid lagen Lügen der Staatsanwaltschaft zugrunde

"Wir warn's." Und: "Wir wollten uns dafür rächen. Dann haben wir ihm Benzin an die Tür gekippt, angezündet, und dann ist das brennend die Treppe runtergelaufen, und mit einem Mal stand die Treppe in Flammen." Kaum jemand, der auch nur einen Artikel zum Lübecker Brandanschlag gelesen hat, dem dieses Geständnis Safwan Eids gegenüber dem Rettungssanitäter Jens Leonhardt nicht bekannt ist. Dennoch lohnt eine nochmalige Betrachtung dieses angeblichen Tatbekenntnisses, das der Kronzeuge Leonhardt in der Brandnacht von dem Libanesen gehört haben will, um die Mär von "schlampigen Ermittlungen" der Strafverfolger endgültig ins Reich der Phantasien zu schicken. Denn Schlampigkeit heißt gemeinhin, wichtige Dinge einfach zu übersehen, heißt, oberflächlich zu arbeiten. Die Lübecker Staatsanwälte allerdings haben nichts übersehen, sondern wider besseren Wissens an der Belastung Safwan Eids gebastelt. Möglicherweise haben andere vorher schlampig gearbeitet, doch die Anklagebehörde hat einfach Fehlendes ergänzt.

Wie sonst konnte die Nachrichtenagentur AFP den Lübecker Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz am 21. Januar, wenige Stunden nach der Verhaftung des Libanesen, zitieren, "Safwan Eid habe am Brandort einem Feuerwehrmann den genauen Ort des Brandausbruchs im ersten Stockwerk mitgeteilt; dieser habe sich durch die dreitägigen Untersuchungen bestätigt"? Ein Blick genügt, um festzustellen, daß in Leonhardts Bericht von diesem "ersten Obergeschoß" nicht die Rede ist. Wer sollte glauben, daß die Staatsanwälte ausgerechnet mit diesen drei Sätzen, die schließlich die einzige Grundlage des Haftbefehls darstellten, schlampig umgegangen wären? Und wie kamen die Ermittler zeitgleich mit der Verhaftung Safwan Eids zu der Erkenntnis, das Feuer sei im ersten Stockwerk ausgebrochen? Selbst die Anhörung von zahlreichen Zeugen, Zeuginnen und Brandsachverständigen konnte nach 60 Verhandlungstagen vor dem Lübecker Landgericht nicht definitiv klären, wo sich der Brandausbruchsort befunden hatte. Der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken spricht in seiner Urteilsbegründung von "möglicherweise zwei primären Brandherden".

Rund 40 Stunden liegen zwischen den ersten Aussagen des Kronzeugen Leonhardt und den Worten des Strafverfolgers Schultz - genügend Zeit, um den ohnehin fragwürdigen Angaben des Sanitäters also zusätzlich alles anzudichten, was ein ordentlicher Haftbefehl braucht. Und das schien notwendig. Denn spätestens in diesem Zeitraum, zwischen dem 19. und 21. Januar, hat man sich offenbar darauf festgelegt, einen Hausbewohner für das Feuer zur Verantwortung zu ziehen: Die rechtsradikalen Deutschen aus Grevesmühlen waren wieder freigelassen worden, und auch der eigens aus Karlsruhe angereiste Beamte von der Bundesanwaltschaft hat seine Koffer schnell wieder gepackt. Die Sache war für ihn erledigt, ein rechtsradikaler Hintergrund nun ausgeschlossen. Zeitgleich mit den ersten Meldungen von der Verhaftung Safwan Eids kann auch der Leiter der Lübecker Polizeidirektion berichten, daß die Behörden einen Anschlag von außen ausschlössen.

Die Geschichte klappt. Stellten Journalisten und unvoreingenommene Politikerinnen in den ersten Tagen nach dem Brand noch kritische Fragen, so wurde der folgende Haftbefehl vom 20. März nicht mehr zur Kenntnis genommen. Dabei hielten die Strafverfolger auch hier an der Lüge vom "Täterwissen" fest. Mit gesteigerter krimineller Energie: Denn mittlerweile wollten die Ankläger den Brandausbruchsort im Flur der rechten Wohnung des ersten Stockes verortet haben. Dort allerdings befand sich keine Tür, an die Safwan Eid Benzin hätte kippen können. Und in das von den Ermittlern entwickelte Szenario über den Brandverlauf will Benzin, das eine Treppe hinunterläuft, gar nicht mehr so richtig passen.

Doch sei's drum. Schließlich stimmte die Realität auch nie mit dem vermeintlichen Tatmotiv "Streitigkeiten unter den Hausbewohnern" überein. Zahlreiche Hausbewohner und Hausbewohnerinnen gaben schon am 19. Januar, noch bevor überhaupt der Verdacht gegen Safwan Eid konstruiert wurde, klar zu erkennen, daß man sich im Haus gut verstanden habe. Wenn überhaupt, so sagte Gustave Soussou, dann hätten sich die Kinder gestritten. Nach der Verhaftung Eids allerdings wurden andere Angaben gebraucht. Folglich kolportierten die Strafverfolger, daß Soussou gegenüber der Polizei von heftigen Streitigkeiten mit dem Beschuldigten berichtet habe.

Nachdem der Schwarzafrikaner diese Behauptung öffentlich als Lüge denunzierte, reagierte die Staatsanwaltschaft schnell: Nachrichtensperre. Doch die schien kaum mehr nötig. Denn mittlerweile hatte sich auch bei den meisten Journalisten herumgesprochen, daß die Stunde für die Nation geschlagen hat. Der große Run auf Tatmotive begann: Prostitution, Drogendeals, Autohandel, Kinderpornographie, kaum eine jener Phantasien wurde ausgelassen, mit der man sich eben so gern vom fremden Kollektiv "Asylbewerber" abgrenzt.

Nur eines, das interessierte niemanden. Dabei war es das einzige, was neben allen tolldreisten Improvisationen tatsächlich dem Thema entsprach, das Leonhardt mit seiner Aussage in die Partitur der Staatsanwaltschaft geschrieben hat: "Wir warn's", soll Safwan Eid schließlich gesagt haben, nicht "Ich war's". Doch damit gab man sich gerne zufrieden, da wollte man gar nicht so genau wissen, wer dieses "wir" denn sein soll. Erste Ermittlungen gegen mögliche Mittäter wurden schnell wieder eingestellt, zuletzt blieben nur noch vage Verdächtigungen von Todesopfern des Brandes, die sich nicht mehr wehren können.

Konkreteres war auch nicht gefragt. Denn eigentlich wußte man ja ganz genau, wen "wir" meint. "Wir" aus dem Munde eines Ausländers sind eben die, die sich mit Drogenhandel und Prostitution durchs Leben schlagen, verbotenerweise Sozialhilfe ziehen und zwischendurch auch mal sich selbst verbrennen, um damit Deutschland in Verruf zu bringen. Die "Asylanten" eben, nicht "wir".