Der letzte Tag in Almeria

Eine Erzählung

Ich hockte wie üblich auf dem Dach der billigen Pension und sah den Wagen nur noch von hinten, so daß ich die zwei Insassen nicht erkennen konnte. Es war ein offener VW mit Westberliner Nummernschild, also auffällig. Normalerweise fuhren in Almeria mehr Pferdekutschen. Die wenigen Autos waren riesige Vorkriegsmodelle Marke Horch, Buick, Wanderer, meistens überfüllt. Zwei Leute in einem Auto, das war der pure Zynismus.

Nach dem Mittagessen sah ich meine Landsleute wieder. Das cremige Cabrio holperte im Schneckentempo zum Meer hinunter, aber sie hatten nur Augen für die Schlaglöcher und bemerkten mich nicht, obwohl ich direkt am Fenster saß, keine drei Meter vom Straßenrand. Ich hockte wie üblich im Adelsclub, um an einem Roman zu schreiben, der von den Ereignissen handeln sollte, die ich gerade hinter mir hatte.

Vor den riesigen Schaufenstern des Clubs standen ein paar eingestaubte Palmen, und der Corso war öd und leer. Bei dieser Hitze schickte man dort unten nicht einmal einen andalusischen Hund auf die Straße, und deutsche Touristen gab es noch keine. Die kamen nur bis an die Costa Brava, und ab Barcelona hatte man seine Ruhe.

Ich beglotzte also ziemlich intensiv die hübsch gekachelte Wand und ging in mich, wie es sich gehört, wenn man ein ernsthaftes Stück Literatur verfassen will.

"Wer bin ich?" fragte ich mich zum Beispiel, "was soll aus mir werden? Gibt es wirklich keinen Ort auf der Welt, wo ich mich eine Zeitlang niederlassen könnte?", und vor allem und tief mit der tendenziellen Heimatlosigkeit des modernen Menschen verbunden:

"Was hat das ganze Leben überhaupt für einen Sinn? Man treibt sich ein paar Jahre lang rum und landet, egal was man macht, ob man gut ist oder schlecht, faul oder fleißig, arm oder reich, mit tödlicher Sicherheit doch nur in einem Grab. Also, was soll der Quatsch?"

So ähnlich fragte ich mich, wie gesagt, an diesem bleichen Nachmittag im Adelsclub von Almeria, nippte an einem vierstöckigen Brandy und überlegte, ob ich rüberschleichen sollte in den Kreuzgang, in dessen Mitte üppige Bananenstauden wuchsen. Ich kannte da einen netten Pater, dem ich mich anvertrauen konnte.

Aber was sollte das bringen? Wollte ich etwa ins Kloster eintreten, nur weil ich versehentlich das Waffenlager einer Studentengruppe an die Polizei verraten hatte und mir einbildete, daß jetzt zwei durchgeknallte Kommilitonen hinter mir her waren?

Ein bißchen Räuber-und-Gendarm-Spielen war ein beliebter Freizeitsport damals. An den westdeutschen Unis nahm jeder AStA ganz offiziell verloren gehende Personalausweise und Reisepässe entgegen und schaffte sie nach Westberlin, wo sie frisiert und an unsere Schwestern und Brüder in der Zone verteilt wurden. Gegen Bezahlung, versteht sich.

Das war im Sommer 1962, und ich lebte schon eine Weile in diesem sonnigen, wasserlosen Kaff und hatte gerade angefangen, mich irgendwie heimisch zu fühlen. Nicht, daß ich mich mal irgendwo fremd gefühlt hätte. Das ist nicht meine Art. Kaum, daß ich irgendwo hinkomme, fühle ich mich schon irgendwie heimisch.

Aber Almeria war etwas Besonderes, und ich hatte schon eine Weile nicht mehr daran gedacht, daß es eigentlich unpraktisch war, den Ort meines Zuhauses immer außerhalb von mir zu suchen, sondern bequemer, wenn ich eine Heimat in mir selber hätte, weil ich dann nicht lange zu suchen brauchte.

Kurz: So knapp vorm Ende Europas hatte sich in mir eine Art Heimatgefühl entwickelt. Man begegnete mir mit dem nötigen Respekt, obwohl ich nur einen fleckigen Albert-Schweitzer-Anzug und einen speckigen Panama besaß, in den billigsten Kneipen aß, und auch im Adelsclub bestellte ich immer nur ein Glas Wasser und den Vierstöckigen.

Heute ist der Ort vermutlich versaut, aber wenn damals einer gefragt hätte, wo meine Heimat sei, hätte ich vielleicht geantwortet: "In Almeria!" Hier fühlte ich mich sicher, und es gab alles, was ich brauchte: Vor allem keine deutschen Zeitungen, auch keine Deutschen und dafür viele nette Leute: Kellner, Droschkenkutscher, Schuhputzer, sogar Polizeibeamte, die so taten, als bemerkten sie mich nicht, und die mich nie nach einer Aufenthaltserlaubnis fragten.

So nett waren die Leute von Almeria, daß sie mir nicht einmal sagten, daß ich eigentlich gar nicht im Adelsclub sitzen durfte, weil nur Mitglieder Zutritt hatten und nur Mitglied werden konnte, wer zum örtlichen Adel gehörte.

Warum hätte ich da wieder weggehen sollen? Nach Norden zu gab es nicht einmal eine Küstenstraße, nur eine nach Motril, Richtung Gibraltar.

Die meiste Zeit verbrachte ich auf dem Dach meiner Pension, genoß den Gestank von heißem Olivenöl und Knoblauch, der aus den Abzugsrohren aufstieg und betrachtete die karstigen Berge, in denen einige Tausend Menschen in armseligen Höhlen lebten, zumeist Zigeuner. Dahinter das Meer bis Spanisch-Marokko.

"Was macht Ihr Roman, Senor Modjewski?" fragte mein andalusischer Freund, ein großer, kräftiger, lässiger Mann, jeden Abend, wenn er mich auf dem Dach abholte. "Haben Sie ein neues Kapitel geschrieben?" - "Natürlich", antwortete ich und wies auf das vollgekrakelte Packpapier.

Er war Ende Zwanzig wie ich, hieß David Esteban Araez und stammte aus einer der angesehenen Familien der Stadt, mit etlichen Dienstboten, war offensichtlich arbeitslos und lief rum wie ein Beatnik. Einmal zeigte er mir sein Zimmer, eine weißgetünchte Dachkammer, die kärglich wie eine Klosterzelle möbliert war: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Kleiderständer, eine Waschgarnitur, sonst nichts. Der einzige Wandschmuck war ein Rucksack.

Er zahlte in keiner Kneipe, fragte nicht nach der Rechnung, sagte nicht: "Schreib's an, hombre", sondern benahm sich, als sei Geld kein Thema, schien jedoch völlig mittellos zu sein und nichts zu besitzen.

"Ich bin ein Seemann", sagte er, als ich ihn nach seinem Beruf fragte. "Meine Heimat ist das Meer." Nachts betranken wir uns in Bretterbuden, wo der Brandy noch billiger war als im Adelsclub und die Mädchen fünfzig Pfennige kosteten oder eine Mark, aber ich brauchte nie zu bezahlen, wenn er dabei war.

Der Roman, an dem ich schrieb, war meine Legende, eine ausgezeichnete übrigens. Von einem Dichter erwartete man damals, daß er sich nicht kämmte, kein Geld hatte und auch nicht sagen konnte, warum es ihn ausgerechnet nach Andalusien zog.

In Wahrheit war ich natürlich kein Dichter, sondern ein junger Anwaltsassessor, und ich war hier, weil mein Chef gesagt hatte:

"Am besten, Sie verschwinden eine Weile, Herr Modjewski. Ich weiß da ein pittoreskes Städtchen an der spanischen Südküste. Hier haben Sie zweitausend Mark, aber fahren Sie per Anhalter. Schaffner haben ein gutes Gedächtnis."

Er war Anwalt, und zweitausend Mark waren vermutlich nicht zuviel für meinen Leichtsinn. Ich hatte damals über ein Mädchen Kontakt zu einer Gruppe Studenten der Freien Universität, die Leute aus Ostberlin in den Westen schmuggelten, mit inoffizieller Billigung von oben, versteht sich, und einige dieser geschäftstüchtigen Freiheitshelden machten später in der Frontstadt Westberlin auch ziemlich Karriere. Als Politiker vor allem.

Mein Chef dagegen war spezialisiert auf Grundstücke in der DDR, deren Eigentümer im Westen lebten. Ständig starb jemand, hinterließ drei Testamente, es gab Erbstreitigkeiten, und da brauchte man einen gerissenen Anwalt, der feststellte, wer denn nun die fiktiven Eigentümer waren, und ob es die Grundstücke noch gab, die zwar in der DDR lagen, aber irgendwann würde man das Ganze ja wiederkriegen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Im Grunde hätte ich mir gleich denken können, daß ein Anwalt für sowas gute Kontakte nach drüben brauchte, aber statt aufzupassen, prahlte ich ein bißchen mit meinen interessanten Bekannten aus dem Fluchthelfermilieu, das eng verbandelt war mit der Ganovenszene, Paßfälscher, Waffenschieber, Perückenmacher, und einmal standen wir am östlichen Ende des Tunnels zwei Vopos gegenüber und entkamen nur, weil Krähe, wie wir unseren Anführer nannten, seinen Ballermann zog und einen der Vopos von allen Sorgen befreite.

"Ob mein Chef seinen Kompagnons im Osten was gesteckt hatte?" fragte ich mich. Und: "So muß es gelaufen sein", sagte ich mir nach vielem Grübeln. "Die im Osten schalten die Russen ein, die Russen die Amerikaner, die Amerikaner regen sich künstlich auf, wegen ihrer Besatzungsrechte, die Westpolizei muß zuschlagen und anderntags steht groß auf Seite eins: ÝStudentenheim am Eichkamp: Polizei entdeckt Waffenlager.Ü"

Aber zurück nach Almeria. "Du wirst gesucht", sagte David Esteban Araez, als er an diesem Abend auf's Dach kam. "Wer, warum?" fragte ich schlecht gelaunt, denn jetzt war es amtlich. "Keine Ahnung. Ich hörte nur, wie sie den Wirt im Café Colon fragten, ob in Almeria ein Deutscher wäre." Ich versuchte nachzudenken. Er fragte beiläufig: "Soll ich dafür sorgen, daß sie dich in Ruhe lassen?" - "Nein, laß nur, ich wollte sowieso morgen früh weiterfahren." - "Ich verstehe", sagte er spitzbübisch, "das nächste Kapitel spielt in Melilla." - "Bestimmt nicht." - "Was hast du gegen Marokko?" - "Schiffsoffiziere haben ein zu gutes Gedächtnis", sagte ich und lachte. "O.k., o.k.", sagte er ebenso gutgelaunt. "Ich werde heute nacht in dem Ledersessel vor deinem Zimmer schlafen."

Es war später Vormittag, als mich der Chauffeur der Familie Araez an der Straße nach Motril absetzte und kehrtmachte. Von hier aus wollte ich trampen. Die Raststätte war eine Bretterbude und stand allein auf weiter Flur in der prallen Sonne. Über ein paar klapprigen Limousinen flimmerte die Luft und an den Rändern des weißen geschotterten Platzes hatte sich ein Zigeuner-Stamm niedergelassen.

"Was suchen die denn hier?" fragte ich den Kellner, der mit Schwung die alten Sägespäne vom Fußboden nach draußen fegte.

"Ach die da? Die wollen zum Film."

Die Zigeuner hatten es gut. Sie konnten zum Film und hatten alles dabei, was sie brauchten, von der Wiege bis zur Bahre, Frauen, Kinder, Gepäck, Ponys, Wagen, Fahrräder. Eine Art transportabler Heimat. Im Spätsommer, wenn nirgendwo mehr ein grünes Blatt hing, sollte in den Bergen über der Stadt der Film "Lawrence von Arabien" gedreht werden.

Also höchste Zeit, die Mücke zu machen, bevor die Gegend voller Filmfritzen und Touristen war. Am besten, ich fuhr zurück nach Westberlin, ging schnurstracks zum Verfassungsschutz und teilte ihnen mit, daß mein Anwalt für die Stasi arbeitete, bevor ein paar Freaks von der Jungen Union aus mir Hackfleisch machten.

In der Baracke war es angenehm kühl, und ich bestellte mir ein kleines Bier vom Faß. Schon der erste, den ich anquatschte, weil er aussah wie der Besitzer des alten Cadillac draußen, versprach, mich bis Cordoba mitzunehmen, bestellte eine große Dose eingelegte Pfirsiche und lud mich ein. Er konnte die Worte "Armes Spanien, komm, trinken wir noch einen, nach Toledo ist weit" in einem halben Dutzend Sprachen.

Die Schatten wurden schon länger, als die zwei Berliner reinkamen. Den einen kannte ich aus der Sauna an der Heerstraße, wo er mir jedesmal vorschwärmte, was Krähe für ein heißer Typ wäre. Der andere war ein bekannter Studentenfunktionär. Sie setzten sich in die Ecke und klatschten in die Hände, bis der Kellner kam. Sie schienen mich nicht zu kennen. Aber ich hatte inzwischen etwa drei Liter Rotwein und etliche große Dosen Pfirsiche intus und kannte mich auch nicht mehr.

Ich stand an der Theke, war zu besoffen, um aufs Klo zu gehen, lachte unbändig, als mir der Urin am Bein runterlief, sah staunend zu, wie meine Hose sich von innen her dunkel färbte, und kriegte eben noch mit, wie die Gäste des Lokals nach draußen liefen, sich vor Lachen auf die Schenkel klopften und so weiter.

Sie schienen noch nie etwas so Lustiges gesehen zu haben wie das, was ihnen jetzt geboten wurde. Nur die Zigeuner zeigten kein Interesse an der Lage. Die zwei Berliner vollführten einen wahren Veitstanz um ihr Cabrio, schimpften, schrien nach der Guardia Civil, reckten die Fäuste und so weiter.

Jemand hatte ihr Fahrzeug aufgebockt, die vier Räder geklaut, und auch die Klappen vorne und hinten standen offen.

Wir kehrten dann in die Bar zurück, mein Chauffeur und ich, er bestellte wieder zu trinken, und irgendwann verlor ich den Faden. Ich erwachte in einem Bett, verkotzt und verkatert. Es war Tag, und an der Wand hing ein Druck der Kathedrale von Sevilla. "Angucken, hingehen", dachte ich. "Kirchen sind so schön kühl."

Aber die Straße vor dem kleinen Hotel machte den Eindruck, als hätte mein Nestor mich etwas außerhalb abgesetzt, und auf dem ersten Verkehrsschild, an dem ich vorbeischlurfte, auf der Suche nach einer Bar, stand eindeutig:

"Nach Almeria 30 Kilometer!"

Weit war ich ja nicht gekommen, den Tag. Drei Monate später, schon längst wieder in Westberlin, kriegte ich dann noch ein Paket aus Almeria. Es enthielt einen Haufen Packpapier, vollgekritzelt mit meiner Schrift, aus dem ich einen Roman machte. Außerdem enthielt es einen Brief. Er lautete:

"Dear Mr. Modjewski! This is a letter from Mr. Araez who was born in Almeria. He is a sailor or whatever you want. Do you remember the Café Colon? I know some people who is now going to have a coffee on your health. Then a lot of Brandy. Si, hombre, a lot of Brandy. Tomorrow the Tante Prima will sail. She is the handsomest ship in Almeria. And, of course, the dirtiest. She is wonderful. Thanks."

Das Geld für die Tante Prima stammte von meinem Chef. Er saß wie üblich im Café Möhring. "Sie schulden mir noch was", sagte ich. "Was?" - "Es gibt da einen Seeemann, dem ich zehntausend Mark schulde." - "Was trinken Sie, Herr Modjewski?" - "Brandy, möglichst spanischen."

Ich hätte jederzeit zurückgekonnt.