Ein Buch wie ein Beefsteak

Tobias Smolletts satirischer Zeitroman in neuer Übersetzung: "Humphrey Clinkers Reise"

Manchmal schlägt das Schicksal doch erbarmungslos zu: In Schottland und dann auch noch als Zweitgeborener auf die Welt gekommen zu sein - was kann es Schlimmeres geben - für einen hagestolzen Landjunker im Britannien vor der Mitte des 18. Jahrhunderts? Tobias George Smollett hat von der Familie nicht viel zu erwarten, er muß sich selbst um die Sicherung seiner Subsistenz kümmern. Das bedeutet aber auch eine seltene Unabhängigkeit von der heimischen Scholle.

Kurvenreich verläuft sein Lebensweg. Rechtzeitig hat er ein Medizinstudium in Glasgow wieder abgebrochen - den Doktortitel kauft er sich später für 20 schottische Pfund. Nach der verpatzten Famulatur reist er nach London mit einer Königsmord-Tragödie im Ranzen, die man dort aber weder drucken noch spielen will. Smollett heuert als Schiffsarzt bei der englischen Flotte an, segelt nach Jamaika, erlebt die fürchterliche Schlappe der britischen Marine gegen die Spanier vor Caragena, kehrt zurück nach London, um sich, nach einer längeren Jamaika-Reise , dort abermals als Schriftsteller niederzulassen. Seine ersten beiden Romane, die "Abenteuer des Roderick Random" und des "Peregrine Pickle", scharfe Gesellschaftssatiren der derberen Art, treiben den tugendhaft-spitzfingrigen Ladies und Gentlemen zwar die Schamesröte ins Gesicht, verkaufen sich aber gut. Neben der Arbeit an zwei weiteren Abenteuer-Romanen, rastloser Übersetzertätigkeit, Kompendienschreiberei (bisweilen unterhielt Smollett eine veritable Schreibfabrik mit mehreren Mietautoren) gründete er die Literaturzeitschrift Critical Review und avancierte zum "Mr. Hypercritical Dr." - bei besonders launigen Zeitgenossen sogar zum "Smallhead" bzw. "Smallwit". Sein angegriffener Gesundheitszustand veranlaßte ihn in den letzten Lebensjahren zu - natürlich protokollierten "Reisen durch Frankreich und Italien", ein Buch, das im Gegensatz zur bekannteren Reisebeschreibung Laurence Sternes ganz und gar nicht vom Sentiment angekränkelt ist, sondern nur so strotzt vor galliger Satire und grimmem Spott auf alles und jeden. In Italien schreibt Smollett auch seinen letzten und besten Roman, "Humphrey Clinkers Reise", der kurz vor seinem Tod erscheint, nur ein Jahr später bereits von Lessings Freund Bode kongenial ins Deutsche übertragen wird - und eben jüngst die hier anzuzeigende Neuübersetzung von Peter Staengle erfahren hat.

Der berühmte nachgeborene Kollege William Makepeace Thackeray hielt den Roman für "das komischste Buch, das je verfaßt wurde, seit man die anmutige Kunst des Romanschreibens übt". "Der vielleicht köstlichste Klatsch- und Tratschroman überhaupt", meinte William Hazlitt, der Theaterkritiker und virtuose Essayist. Goethe hat den "Humphrey Clinker" nicht gelesen - typisch! Und Jean Paul? Der sah in Smollett einen "Meister im Prügeln", "weil er gelassen und ohne Pomp auf das Gliedmaß schlägt". Alle haben sie ein bißchen Recht, auch wenn im schon etwas altersweisen "Humphrey Clinker" nicht mehr gar so viel geprügelt wird. Mit dieser Mischung aus Brief-, Reise-, Pikaro- und Bildungsroman hatte Smollett endlich die angemessene Form gefunden, die englische Gesellschaft in summa satirisch abbzubilden.

Eine recht gemischte Gesellschaft unternimmt eine mehrwöchige Bade-Reise, ausgehend von Wales über Bath, London nach Schottland (und wieder retour), und berichtet in Briefen von dieser Expedition ins eigene, unbekannte Land. Mit von der Partie: Matthew Bramble, der eher hypochondrische als wirklich gichtkranke Initiator der Reise, ein schrullig-misanthropischer, im Grunde aber gütiger Patriarch, seine ebenso geizige wie häßliche Schwester Tabitha, eine alte Jungfer, die aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat und sich am Ende den unleidlichen, weil vom Leben arg gebeutelten Leutnant Lismahago angelt; Brambles Neffe Jerry Melford, ein hedonistischer Stutzer, "voller Akademikerdünkel und Selbstvernarrtheit, stolz wie ein deutscher Graf, heißblütig und heißsporning wie ein welscher Gebirgler"; Jerrys hübsche und sentimentale Schwester Lydia, "weich wie Butter und ebenso leicht zu schmelzen", die sich eingangs in einen fahrenden Schauspieler verliebt, den sie am Ende sogar heiraten darf - weil der sich in einen wohlhabenden Gentleman aus gutem Hause verwandelt; und nicht zu vergessen die schreckhafte, abergläubische, erzdumme Zofe Winifred Jenkins, die sich einiges auf ihre Bildung zugute hält, deren Briefe jedoch von den Gesetzen der Syntax, Orthographie und Semantik recht unbelastet sind.

Diese krauen Episteln sind nicht nur höchst komisch, sie charakterisieren (wort)spielerisch die fingierte Schreiberin, die gerade in ihren Fehlern immer wieder halb- oder unbewußte bzw. bewußt verschwiegene Neigungen indirekt, gleichsam subkutan zur Sprache bringt. Beispielsweise wenn sie ihrer Freundin erstmals Humphrey Clinker, den religiösen Schwärmer und braven, beflissenen Diener Brambles, vorstellt: "durch Gottes Fügung lasen wir einen neuen Diener auf und der heißt Hunfrei Klinker. Er ißt eine gute Seele, ährlich". Was sie will? Natürlich Klinker "freien", das heißt "unfrei" machen, und sich redlich mit ihm mehren oder besser mähren (wie sonst sollte man ihr durch die Fruchtbarkeitsmetapher "Ähre" forciertes "ährlich" verstehen?). Immer vorausgesetzt natürlich, daß Klinker eine gute Seele wie Winifred Jenkins "ißt", sie also zum Fressen gern hat. Und wie es der Smollett nun will, bekommen sich die beiden tatsächlich. Zu allem Überfluß entpuppt sich Humphrey auch noch als gute Partie, als unehelicher Sohn Brambles nämlich. Glück gehabt, Win!

Solche, das Vor-, um noch nicht zu sagen Unterbewußte entlarvende Sprachspielereien weisen weit voraus in die Zukunft - und nehmen Schreibweisen der Moderne vorweg, wie sie James Joyce und später Arno Schmidt entwickelt haben. Naturgemäß, muß man schon hinzufügen, gelingt es dem Übersetzer nicht immer, Smolletts "Verschreibungen" so sinnreich ins Deutsche zu transportieren; aber Staengles Übertragung verrät schon einige Virtuosität.

Ansonsten bekommen wir eine doppelte Portion Empirie des 18. Jahrhunderts geboten. Mit Recht bezeichnet der Übersetzer den Roman (im Nachwort) als erstrangige "Quelle für kulturhistorisch interessierte Leser". Für den Roman im ganzen gilt, was Jerry an einer Stelle des Romans über seine Art zu erzählen bemerkt: daß er Erlebtes "serviere wie ein Beefsteak bei ÝDolly's TavernÜ, nämlich geradewegs aus der Pfanne, brutzelnd und ohne großes Trara". Smollett wettert gegen das Amüsement in den Badeorten, die Renommiersucht und Verschwendung des Adels, vor allem - so will es das misogyne Stereotyp - der Frauenzimmer, gegen die einsetzende Industrialisierung und die daraus resultierende Beschleunigung des Lebensrhythmus, gegen Umweltverschmutzung und völlig vergiftete Nahrungsmittel: Das Brot ist "ein Gemisch aus Kalk, Alaun und Knochenasche, im Geschmack farblos"; beim Gemüsekochen werfen die Leute ein kupfernes Halfpence-Stück in den Topf, "damit das Zeug eine hübschere Farbe bekommt"; "Schweinefleisch hinwieder stammt von einem abscheulichen, aasfressenden Viehzeug, das mit Pferdefleisch und Spritmaische gemästet wird, und das Geflügel endlich ist infolge eines Fiebers, hervorgerufen von der infamen Praxis, den Tieren die Gedärme zuzunähen, um sie mittels solcher grausam herbeigeführten Verstopfung in Brutkörben schneller fett zu machen, völlig verfault".

Er schimpft auf die "wohlbeleibten Prälaten und Pfarrherren mit Kupfernasen und gichtischen Beinen", "die enorme Hängebäuche, Embleme des Müßiggangs und der Verstopfung, mit sich herumschleppen"; er geißelt die pfäffische Bigotterie des Zeitalters, die Käuflichkeit und groteske Inkompetenz der Politiker - und läßt den Waliser Bramble lange mit dem schottischen Leutnant Lismahago über die (wenigen)Vor- und (vielen)Nachteile diskutieren, die Schottland aus der Union mit England erwachsen sind.

Diese von den Zeitgenossen als anti-britische Propaganda (richtig) verstandenen Passagen verdrossen das Whig-Söhnchen Horace Walpole so sehr, daß er sich dazu hinreißen ließ, "Humphrey Clinkers Reise" als "Parteiroman" zu denunzieren - "den der liederliche Lohnschreiberling Smollett abgesondert hatte, um die Schotten zu verteidigen und die Rechtsprechung in Verruf zu bringen". Hinreißend. Und so wahr.

Ja, gäbe es da nicht einen etwas bitteren Beigeschmack - die penetrante Fortschrittsfeindschaft, immer einhergehend mit dem Lob eines einfachen, zurückgezogenen Landlebens fernab (urbaner) Zivilisation, und das ständige Eindreschen auf den sogenannten ungebildeten "Pöbel" - man müßte vor lauter Wohlbehagen an diesem brutzelnden Beefsteak von einem Roman leise schnurren.

Tobias Smollett: Humphrey Clinkers Reise. Übersetzung aus dem Englischen und Nachwort von Peter Staengle. Manesse Verlag, Zürich 1996. 724 S., DM 38,80