07.08.1997

Im Auftrag der Götter

Der Neonazi Kay Diesner muß sich vor dem Lübecker Landgericht wegen Polizistenmordes und Mordversuches an einem Marzahner Buchhändler verantworten

Am 8. August wird vor der Schwurgerichtskammer des Lübecker Landgerichts der Prozeß gegen den Berliner Neonazi Kay Diesner eröffnet. Angeklagt ist Diesner wegen Mordes und dreifachen versuchten Mordes. Diesner hatte am 19. Februar 1997 den Marzahner PDS-Buchhändler Klaus Baltruschat in dessen Buchladen durch drei Schüsse aus einer halbautomatischen Pumpgun in die Arme und den Brustbereich schwer verletzt.

Anschließend verließ Diesner Berlin mit seinem Auto - im Gepäck die Pumpgun, die er im August 1996 in ...sterreich gekauft hatte, über 100 Schuß Munition, Ausbildungshandbücher der Schweizer Armee, Handschellen, eine kugelsichere Weste und ein Wurfmesser sowie sein Pitbull. Vier Tage später, Diesner war mittlerweile nach eigenen Angaben zunächst nach Hamburg, dann nach Schleswig gefahren und hatte in seinem Mazda übernachtet, erschoß er auf der Raststätte Rosenburg bei Lauenburg den Polizeibeamten Stefan Grage, als dieser mit einem Kollegen zusammen Diesners Personalien überprüfen wollte. Diesner verletzte auch Grages Kollegen und flüchtete dann über die Autobahn nach Lauenburg, wo er von Polizeibeamten gestellt wurde.

Der Prozeß ist zunächst auf dreizehn Prozeßtage angesetzt. Im Falle einer Verurteilung droht Diesner, der sich kurz nach seiner Verhaftung in einem Geständnis sowohl zu den Schüssen auf Klaus Baltruschat als auch auf die Polizeibeamten bekannte, eine lebenslange Haftstrafe.

Gegenüber den vernehmenden Beamten rechtfertigte Diesner, der im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Lübeck in Untersuchungshaft einsitzt und sich als "Kriegsgefangener" bezeichnet, die Schüsse auf den Buchhändler Baltruschat als Reaktion auf die Beteiligung der PDS an den Antifa-Protestaktionen gegen den Aufmarsch der rechtsextremen Jungen Nationaldemokraten (JN) in Berlin-Hellersdorf am 15. Februar. Auf die Polizeibeamten habe er in Notwehr geschossen, da er sich von der Polizei schon seit 1990 verfolgt gefühlt habe. Diesner, der sich als Kämpfer des "Weißen Arischen Widerstands" (WAW) bezeichnet, legte bei den Vernehmungen großen Wert darauf, als Einzeltäter und nur "im Auftrag der Götter Odin und Thor" gehandelt zu haben.

Die spannendeste Frage des Verfahrens wird sein, ob Diesners Vertrickungen in die Terrorstruktur der Berliner Neonazis im Prozeß überhaupt thematisiert werden wird und inwieweit geklärt werden kann, mit welchen Nazikadern Diesner seit seiner Verurteilung im "Bewaffneten-Haufen-Prozeß" im Januar 1996 Kontakt hatte. Ein Rückblick auf Diesners langjährige Geschichte in der militanten Berliner Neonaziszene legt zumindest den Schluß nahe, daß er aus den Werwolf-Strukturen kommt.

1990 hatte sich der damals 18jährige Ostberliner, der nach seiner Flucht in die BRD im Sommer 1989 im Auffanglager Friedland erste Kontakte zur NPD knüpfte, der "Nationalen Alternative" (NA) um den Neonazikader Arnulf Priem angeschlossen. Treffpunkt: Das damals von Rechten besetzte Haus in der Berliner Weitlingstraße. Dort traf Diesner auch den später aus der rechten Szene ausgestiegenen Ingo Hasselbach. Es folgten zwei Jahre intensiver ideologischer und militärischer Schulung, inklusive Wehrsportübungen auf Rügen und südlich von Berlin bei Königs Wusterhausen. Zu den paramilitärischen und ideologischen Ausbildern der NA gehörte die Crème de la Crème der Naziterrorszene: Der ...sterreicher Gottfried Küssel sowie Ekkehard Weil und Bendix Wendt, der laut Ingo Hasselbach als "Wehrsportbeauftragter" der NA sowohl für deren Waffenkäufe, als auch für die paramilitärische Ausbildung zuständig war und gute Kontakte zu dem Kreis der österreichischen Briefbombenbauer unterhalten haben soll. Nach Aussagen von Hasselbach nahmen auch auch die beiden Angeklagten im Wiener Briefbombenprozeß, Franz Radl und Peter Binder, an einigen Wehrsportübungen der NA teil.

Auch mit dabei: Der damalige NA-Propagandaleiter und heutige Anti-Antifa-Aktivist Oliver Werner, bei dem sowohl Anleitungen zum Bombenbau als auch mehrere Rohrbomben, Sprengstoff und Adressen von "Feinden" gefunden wurden, sowie der derzeit in der JVA Moabit einsitzende 35jährige Marcus Bischoff und Diesners enger Freund Andreas Tews.

Schon vor ihrer Selbstauflösung hatten sich große Teile der NA für das vom us-amerikanischen Neonaziführer Louis Beam Anfang der neunziger Jahre propagierte Konzept des "führerlosen Widerstands" entschieden. "Nach der Strategie des führerlosen Widerstands operieren alle Individuen und Gruppen unabhängig voneinander und fragen nie bei einem zentralen Hauptquartier und Einzelführern nach Anweisungen ... Niemand muß irgendjemand einen Befehl erteilen ... Dies führt zu sehr kleinen oder sogar Ein-Personen-Zellen", schreibt Beam. Weltweit berufen sich Rechtsextreme wie Timothy McVeigh, Attentäter des Bombenanschlags von Oklahoma City, oder der terroristische schwedische "Vita Ariska Motstandet" (auf Deutsch ebenfalls "Weißer Arischer Widerstand") auf Beams Ideen zur Verteidigung einer "weißen Rasse".

Eine speziell deutsche Variante des "führerlosen Widerstands" findet sich in dem Buch "Eine Bewegung in Waffen", dessen Vorabdruck im "NS-Kampfruf" unter anderen von Kay Diesners Weggefährten aus NA-Zeiten Marcus Bischoff verbreitet wurde. Darin wird das von NSDAP-Propagandaminister Joseph Goebbels kurz vor der Niederlage Deutschlands propagierte "Werwolf"-Konzept wieder aufgegriffen und für den Neonazi-Untergrund der neunziger Jahre aktualisiert. "Beim Attentat ist die Vernichtung von Menschenleben eigentliches Ziel der Kampfhandlungen. Das Attentat ist für den Werwolf die einzige Möglichkeit einer Art von Rechtsprechung im weitesten Sinn", lautet eine der Anweisungen an die "nationalen Kämpfer". Und: "Der Werwolf muß in die Nachrichten kommen. (...) Solange unbeteiligte Volksgenossen dabei nicht zu Schaden kommen, ist alles erlaubt." Werwolf-Aktivisten werden demnach als sogenannte Schläfer ausgebildet, die aktiv werden, wenn "das System mittels Repressionsapparat die Bewegung gezielt oder in einer Art Paniksituation mit Gewalt zu zerschlagen versucht". Dann sei für den Werwolf die Legitimation gegeben, "d.h. er darf sich aller zur Vernichtung des Systems geeigneten Mittel bedienen".

Gemeinsam mit Bischoff, Oliver Werner und seinem engen Freund Andreas Tews sowie 22 weiteren führenden Neonaziaktivisten wurde Diesner am 13. August 1994 in der Wohnung von Arnulf Priem verhaftet. Werner hatte während einer antifaschistischen Demonstration vom Dach des Hauses Journalisten mit einer Zwille angegriffen; Diesner war bei seiner Verhaftung mit einem Baseballschläger und einem Klappmesser bewaffnet. Er wurde dafür, ebenso wie 13 weitere Neonazis, wegen Mitgliedschaft "in einem bewaffneten Haufen" schließlich im Januar 1996 zu einer Geldstrafe verurteilt. Schon im November 1994 war Diesner zu einer ersten Geldstrafe verurteilt worden, weil er am 1. Mai 1994 an der 1. Mai-Demo der maoistischen Gruppe RIM teilgenommen und dort wegen Widerstands und Landfriedensbruchs festgenommen wurde.

Die personelle Zusammensetzung des bewaffneten Haufens bei Arnulf Priem zeigt jedenfalls deutlich, daß führende Berliner Neonazis auf der Ebene der militanten Anti-Antifa-und Terror-Schiene hervorragend zusammenarbeiten. Auch mit auf Priems Dach: Detlef Nolde, der wenige Monate nach Diesners Schüssen zusammen mit seinem FAP-Freund Lutz Schillock zwei Wittenberger Neonazis erstach. Teile der alten NA-Struktur verfügen darüber hinaus über gute Kontakte zu Andreas Storr und der JN.

In der U-Haft wurde Diesner vor allem von Andreas Tews, einem engen Freund von Anti-Antifa-Aktivist Oliver Werner, betreut. Tews, der seit mindestens 1994 Mitglied der Hilfsgemeinschaft für Nationale Gefangene (HNG) ist, stellte offenbar auch Diesners Betreuung durch die HNG sicher.