Politik als Form

Das Architektur-Museum in Frankfurt am Main zeigt den Nachlaß von Mart Stam

Irgendwann, es muß wohl in den Siebzigern gewesen sein, wollte die Stadt Frankfurt am Main weg vom Image des Banken-Börse-Messe-Platzes. Es sei, so befand man, Zeit, den Kommerz mit Kunst zu adeln, und investierte in Kultur. Am Schaumainkai, wo es den schönsten Blick auf Mainhattan und seine imposanten Banktürme gibt, entstand in den Achzigern eine prestigeträchtige Museumsmeile und mittendrin, einmalig im ganzen Land, das Deutsche Architektur-Museum. Doch die goldene Zeit der Kultur am Main währte nicht lange. In den Neunzigern ist in Frankfurt eisernes Sparen angesagt. Angesichts eines beispiellosen Börsen-Booms und ständig steigender Bankengewinne, bleibt - wen wundert's - für die einst so hübsch angelegten Musentempelchen kein Geld mehr übrig. Auch nicht für das 1984 eröffnete Architektur-Museum. Daß es trotz der Misere weiter tapfer Ausstellungen produziert, ist beachtlich.

Derzeit wird dort eine dem Architekten und Gestalter Mart Stam gewidmete Ausstellung präsentiert, deren Exponate, abgesehen von einigen an der Fachhochschule Münster entstandenen Holzmodellen, aus den Beständen des Museums stammen, das vor Jahren den Nachlaß des 1986 verstorbenen Stam übernahm. Inzwischen zählt Mart Stam, auch wenn man ihn wegen seines vergleichsweise schmalen Werkes nicht zu den Großmeistern der klassischen Moderne rechnen will, zu den interessantesten Figuren in der Architekturgeschichte des Jahrhunderts, dessen Wechselfälle, Widersprüche und Konflikte seine bewegte Biographie prägten. Geboren und aufgewachsen in Holland, kam er, nach einer Tischlerlehre, über ein Fernstudium zur Architektur. 1920 saß er wegen Kriegsdienstverweigerung für sechs Monate im Gefängnis: "Ich kann nicht gehorchen, wo man mir befiehlt gegen mein Gewissen zu handeln."

In den folgenden Jahren knüpfte er während Arbeitsaufenthalten in Berlin, Paris und der Schweiz enge Kontakte zur Architektur-Avantgarde, genauer: zu ihrem radikalsten, dezidiert linken Flügel, der bauend die Revolution befördern wollte, schroff jeden Kunstanspruch abtat und eine Verwissenschaftlichung der Architektur verlangte. Das vorrangige Ziel dieser später als "linke Funktionalisten" etikettierten Avantgardisten war nicht die Durchsetzung einer neuen Formensprache, eines neuen Stils, sondern eine an den elementaren Bedürfnissen der Menschen orientierte und die neuen technischen Möglichkeiten voll ausschöpfende Architektur, die sich ihrer sozialen Aufgabe und Verantwortung bewußt ist. Selbstverständlich haben Stam und die ihm nahestehenden Architekten dann schlicht und formal reduziert gebaut. Aber von der "Blutleere" und dem kruden Funktionalismus, der ihnen später immer wieder vorgeworfen wurde, ist, jedenfalls in ihren frühen Arbeiten, keine Spur. Sie zeigen im Gegenteil, wie dramatisch und schön sich Zweckmäßigkeit inszenieren läßt.

Bereits Stams erster eigenständiger Bau, eine Reihenhausgruppe auf der legendären, von Mies van der Rohe initiierten Weißenhofsiedlung in Stuttgart (1927), machte ihn über enge Fachkreise hinaus bekannt. Der dort ausgestellte hinterbeinlose Kragstuhl, an dem Stam im Auftrag der Firma Thonet noch jahrelang weitertüftelte, gilt längst als einer der klassischen Stahlrohrfreischwinger und ist, noch immer in Produktion, zweifellos sein dauerhaftestes Meisterstück.

Auf Stuttgart folgte Frankfurt. Dort betrieb der Baustadtrat Ernst May sein vielbeachtetes, dem sozialen Wohnungsbau verpflichtetes Projekt "Das Neue Frankfurt". Stam steuerte dazu zwei beispiellos moderne, vorbildliche Entwürfe bei: die Kleinstwohnungssiedlung Hellerhof und das nach seinen Siftern benannte Henry- und Emma-Budge-Heim, ein städtisches Altersheim, paritätisch von Menschen jüdischen und christlichen Glaubens bewohnt. Die kurze Zeit in Frankfurt (1928-30), unterbrochen von Lehraufträgen am Dessauer Bauhaus, markiert die fruchtbarste Phase in Stams Schaffen. Als nach 1929 in Deutschland an ein soziales Bauen nicht mehr zu denken war, zog es ihn mit der "Brigade May" in die Sowjetunion, die zur Realisierung ihrer ehrgeizigen Industrialisierungs- und Urbanisierungspläne westliche Fachleute ins Land holte. Die streng funktionalistischen städtbaulichen Entwürfe der linken Avantgardisten, die voller Enthusiasmus beim Aufbau des Sozialismus dabei sein wollten, stießen in der Sowjetunion auf Unverständnis und Ablehnung. Als "fordistisch", als Abbild der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung denunzierte man ihre Arbeit. Nicht nur für Stam, der 1934 das Land verließ, endete dieses Gastspiel enttäuschend.

Vierzehn Jahre später unternahm Stam, der zwischenzeitlich in den Niederlanden gelebt hatte (seit 1939 als Direktor der Amsterdamer Kunstgewerbeschule), einen zweiten Versuch, beim Aufbau des Sozialismus mitzuwirken. Auf Einladung des sächsischen Industrieministers Falkenberg übersiedelte er 1948 in die SBZ. Man erbat sich von ihm Vorschläge für die Wiederaufbauplanung Dresdens und vor allem für eine Neuorganisation der Dresdner Kunsthochschulen. Stams Versuch, die Hochschulen unter dem Primat der Architektur zusammenzuschließen und einen sowohl didaktisch als auch programmatisch am Bauhaus orientierten Lehrbetrieb einzurichten, fand zwar Unterstützung von oben, scheiterte aber an den alteingesessenen Künstlern, die das Akademieprinzip und ihre Meisterklassen zäh verteidigten. "Was sich in Dresden vollzog", so schreibt Simone Hain, die Stams Zeit in der DDR erstmals genauer untersuchte, "war letztlich ein Kampf unter politisch Gleichgesinnten, unter Genossen, um die kulturpolitische Strategie der sozialistischen Gesellschaft. Es war ein unversöhnlicher Kampf ohne Bereitschaft zur Konsensbildung." 1950 löste man den Konflikt, indem man Stam nach Berlin versetzte und ihn zum Direktor der Hochschule für angewandte Kunst in Weißensee ernannte.

Hier arbeitete er mit größerem Erfolg. Vor allem gelang es ihm, dem neugegründeten Institut für industrielle Formgestaltung ein überzeugendes Profil zu geben. Als das ZK der SED 1951 die berüchtigte Entschließung "Gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kunst" verabschiedete, setzte eine wüste Kampagne gegen Stam und die Hochschule ein, die, wie Hain schreibt, "nach einem persönlichen Affront des regierenden Möbeltischlers Walter Ulbricht anläßlich des ÝWettbewerbs für SerienmöbelÜ am 22. September 1952" in dem Hausverbot für Stam in Weißensee gipfelte. "Krank an Leib und Seele" verließ Stam am Neujahrstag 1953 die DDR, in der man seine Arbeit jahrzehnte lang mit keiner Zeile gewürdigt hatte

In den fünfziger und frühen sechziger Jahren konnte Stam in den Niederlanden noch einige, der "zweiten Moderne" zugerechnete Projekte (Wohn- und Bürogebäude) realisieren, ehe er 1966, nach einer schweren Erkrankung, die Architektur aufgab. Er übersiedelte in die Schweiz und lebte dort völlig zurückgezogen bis zu seinem Tod.

Der gewiß ehrenwerte Versuch des Deutschen Architekturmuseums, aus der Finanznot eine Tugend zu machen und aus der eigenen Substanz zu schöpfen, kann im Fall Mart Stam nicht überzeugen. Zu lückenhaft dokumentiert der Nachlaß das Stamsche Werk, zu ungenügend erscheint seine didaktische Aufbereitung. Die Ausstellung, deren Schwerpunkt auf dem Frühwerk liegt, ist erkennbar eine Minimal- und Verlegenheitslösung. Offensichtlich fehlt in Frankfurt das Geld, oder der Wille, oder der lange Atem, in zwei Jahren, 1999, wenn Stams hunderster Geburtstag ansteht, die Gelegenheit für eine längst fällige, große Retrospektive zu nutzen.

"Mart Stam (1899-1986) Architekt - Visionär - Gestalter". Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum, Frankfurt a. M.; Katalog, 148 S., 48 Mark; bis 7. September. Die Ausstellung wird anschließend in Dresden (Deutsche Werkstätten Hellerau) und Dessau (Stiftung Bauhaus) zu sehen sein.