Agrarkommunismus und wenig Sex

Entwicklung, Ideologie und Politik der Roten Khmer

"Es gibt kein Vorbild für das revolutionäre Experiment der Khmer. Wir wollen etwas verwirklichen, was es noch niemals in der Geschichte gegeben hat", erklärte der Vize-Premier und Außenminister des Pol-Pot-Regimes, Ieng Sary, 1977 gegenüber dem Spiegel. Dieses Experiment dauerte von 1975 bis 1979, kostete rund einer Million Menschen das Leben und prägte die Geschichte Kambodschas bis heute.

Bereits in den dreißiger Jahren hatte auf Drängen der Kommunistischen Internationale die vietnamesische KP mit dem Aufbau einer kommunistischen Bewegung in den Nachbarländern Laos und Kambodscha begonnen. Allerdings mit wenig Begeisterung. Zwar bekämpfte man auf der einen wie der anderen Seite der Landesgrenzen zunächst den gemeinsamen Gegner: die französischen Besatzer. Doch für eine sozialistische Revolution im Nachbarland sahen die vietnamesischen Kommunisten eher schwarz. Zu rückständig schien ihnen die ökonomischen Verhältnisse. Dennoch beharrte die Komintern-Führung auf ihrer Forderung. Erfolgreiche Revolutionen in Vietnam, Laos, Kambodscha und Thailand sollten am Ende zu einer indochinesischen Föderation führen.

Die aber ließ auf sich warten. Zwar besetzte Japan während des Zweiten Weltkriegs Kambodscha und entließ das Land in die Unabhängigkeit. Dem Regiment der Kolonialherren folgte das von König Norodom Sihanouk, das aber nur von kurzer Dauer sein sollte. Nach dem Rückzug der Japaner gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fiel Kambodscha erneut an Frankreich. Die vietnamesische Führung blieb sich in ihrer Skepsis gegenüber dem revolutionären Aufschwung in Kambodscha treu. Statt auf den Aufbau einer kommunistischen Bewegung konzentrierte sie sich auf die Bündnispolitik mit nationalistischen Kräften, aus der 1942 die erste antikoloniale Befreiungsbewegung Khmer Issarak hervorging.

Mit dem Ende der Genfer Indochina-Konferenz 1954 errang Kambodscha die Unabhängigkeit, König Sihanouk hatte bereits seit sechs Jahren die formale Regierungsgewalt inne. In die gleiche Zeit fällt die Gründung der revolutionären Volkspartei der Khmer, die als Vorläufer der KP Kambodschas gilt. Doch der Einfluß bei den Massen blieb gering. Die KP übte sich in Desorganisation, verfügte weder über Massenorganisationen noch über einen bewaffneten Flügel.

Im März 1955 verzichtete Sihanouk auf den Thron. Als "gewöhnlicher Bürger", so erklärte er damals, wolle er an den Wahlen teilnehmen. Er gründete die rechte Sammlungsbewegung Sangkum, sorgte noch im Wahlkampf für die Niederschlagung der Linken. Er ließ die die Demokratische Partei verbieten ebenso wie Publikationen der Opposition, deren Kandidaten oft den Wahlkampf im Gefängnis verbrachten. Die Sangkum erhielt, bei Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug, 84 Prozent der Stimmen. Kambodscha wurde zum Einparteienstaat, die Linke weitgehend dezimiert.

Die Genossen in Hanoi ließ das kalt. Sie warteten ab, um im Gegenzug Sihanouk zu einer neutralen Haltung im Vietnam-Konflikt zu verpflichten. Diese Stillhaltetaktik stieß aber auf Ablehnung. Eine Gruppe um Saloth Sar, der später unter dem Namen Pol Pot bekannt werden sollte, und Ieng Sary agitierte auf dem Parteikongreß 1960 erstmals für den bewaffneten Kampf gegen das Sihanouk-Regime. Zwei Jahre dauerte die Auseinandersetzung zwischen dem Pol-Pot-Zirkel, der sich aus einem in Frankreich gegründeten marxistischen Lesekreis rekrutierte, und der provietnamesischen Parteiführung. Unter ungeklärten Umständen verschwand der Parteisekretär Tou Samoth, und schon acht Monate später hieß der neue Parteiführer Pol Pot. Mitte 1963 verließ das gesamte ZK Phnom Penh, um im Dschungel eine politische Basis für den bewaffneten Kampf zu organisieren.

Während die kambodschanische KP im Hinterland eine Front gegen Sihanouk aufbaute, wurde der für die Vietnamesen immer wichtiger. Seine Neutralitätspolitik kam mehr und mehr dem vietnamesischen Widerstand gegen das US-gestützte Ngo-Dinh-Diem-Regime in Südvietnam zugute. 1965 brach er sogar die diplomatischen Beziehungen zu Washington ab. Damit schwand auch sein Einfluß auf die städtischen Elite, die von US-Hilfen profitiert hatten. Gleichzeitig begannen die USA, die rechtsgerichteten Khmer Serei zu unterstützen. Der Eintritt der USA in den Vietnamkrieg katalysierte die Entwicklung: Während die Vietnamesen ihren Kollegen in Kambodscha Friedhofsruhe verordneten, da Sihanouk das Grenzgebiet dem Vietcong als Rückzugsgebiet zur Verfügung stellte, forcierten die USA einen Putsch in Kambodscha.

1970, drei Jahre nach Beginn des bewaffneten Kampfs der Roten Khmer, kam es zum Staatsstreich durch die pro-amerikanischen Weggefährten Sihanouks um Lon Nol. Vietnam drängte auf den Aufbau einer kambodschanischen Volksfront unter Einbeziehung Sihanouks, um den Widerstand gegen die Putschisten zu verbreitern. Die Kambodschaner aber blieben skeptisch. Zu lange hatten sie sich den taktischen Schwenks der Vietnamesen unterordnen müssen. Zwar baute die KPK zusammen mit dem gestürzten König die Vereinigte Nationale Befreiungsfront auf, die sich auch prompt großen Zulaufs erfreute. Gleichzeitig aber verdrängte die KP die Monarchisten aus allen Leitungsfunktionen.

Innerhalb der zerstreuten KP agierten damals drei verschiedene Fraktionen. Die nationalrevolutionäre Gruppe um Pol Pot, die mit einem "supergroßen Sprung nach vorn" Kambodscha in ein "entwickeltes Industrieland mit großer Stärke für die nationale Verteidigung" ausbauen wollte. Ihre Aktivisten rekrutierten sich hauptsächlich aus Intellektuellen, die in Frankreich studiert hatten. Die Stärke des neuen Staates sollte aus entwickelter Agrarproduktion, mobilisierter Bauernschaft und vollständiger Lösung von alten Denkstrukturen und Werten der kambodschanischen Gesellschaft beruhen. 1976 hatte sich diese Strömung weitgehend durchgesetzt.

Ein zweiter Flügel orientierte sich an der chinesischen Kulturrevolution. Ihr Einfluß verschwand schnell, als die chinesische Führung den sowjetischen "Sozialimperialismus" zum Hauptfeind erklärte. Dessen gute Beziehungen zu Vietnam sah man in Peking als bedrohlich an und setzte auf die Unterstützung der Pol-Pot-Gruppe, die eine größtmögliche Destabilisierung Vietnams versprach. Die dritte Strömung nahm die vietnamesischen Entwicklung zum Modell und forderte den raschen Aufbau einer industriellen Großproduktion.

Als die Roten Khmer 1975 die Macht übernahmen, brach die Wirtschaft Kambodschas zusammen. Die Hilfslieferungen blieben aus; durch den Bürgerkrieg waren die Städte mit Flüchtlingen überfüllt. Die Reisproduktion war auf ein Viertel des Jahres 1969 reduziert, 40 Prozent der Straßen durch US-amerikanische Bombardements zerstört. Die Pol-Pot-Regierung ordnete drastische Maßnahmen an, um die Reisproduktion zu sichern. Ursprünglich hatten die führenden Parteitheoretiker den stufenweisen Aufbau eines Kooperativensystems vorgeschlagen. Dieser sollte sich an bereits unter der Bauernschaft verankerten Kooperationsformen wie Nachbarschaftshilfe oder gemeinschaftlichen Reparaturarbeiten orientieren, um die rückständige Landbevölkerung schrittweise vom Nutzen der Kollektivierung zu überzeugen. "Kooperativen kann man nicht aufbauen,wenn es kein Kooperativen-Bewußtsein, kein Bewußtsein für Gemeinschaftsinteresse gibt", so der 1975 liquidierte Kommunist Hou Yuon, der auch für demokratische Mitbestimmung eintrat: "Für gewöhnlich wird gesagt, die Aufgabe der Leiter sei es, die Mitglieder (der Kollektive, A.S.) zu erziehen und zu lehren. Das ist korrekt, aber oft wird dabei vergessen, daß die Massen, die Mitglieder auch die Aufgabe haben, ihre Leiter zu erziehen."

Die sofortige und vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft, die das Pol-Pot-Regime 1975 durchführte, widersprach diesen Grundsätzen vollständig. Die Bevölkerung wurde zwangsweise in 30 000 Kooperativen mit strengster Arbeitsdisziplin zusammengefaßt. Zur Umsetzung der Maßnahmen trieb man die Stadtbevölkerung aufs Land, gearbeitet wurde von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Die Kollektive, deren Führung von der lokalen Parteileitung eingesetzt wurden, waren militärisch organisiert, basierten auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam - und waren in Stadt wie Land dementsprechend unbeliebt.

Mit der Evakuierung der Städte sollte auch die bisherige Organisation des sozialen Lebens zerschlagen werden: "Die Kultur des Demokratischen Kampuchea", so erläuterte Pol Pot 1978, "ist eine neue Kultur. Aus unserer nationalen Tradition wählen wir allein die progressiven Werte und vernichten die reaktionären und rückwärtsgewandten Merkmale." In der Praxis richteten sich die damit verbundenen Maßnahmen gegen nahezu die gesamte Bevölkerung. In den Kollektiven herrschte eine Zweiteilung. Wer aus den Städten kam, mitunter also der "reaktionären, korrupten, rowdyhaften Art des Denkens" (Radio Phnom Phen 1978) anhing, wurde quasi automatisch bei Nahrungsmittelzuteilung, Medikamentenversorgung und Arbeitszuweisung benachteiligt. Mit der "Sozialisierung der Töpfe und Pfannen", der Einrichtung der kommunalen Speisehallen, schuf sich das Regime eine weitere Möglichkeit der Belohnung und Bestrafung durch die Nahrungsmittelzuteilung - selbst die Möglichkeit, dann zu essen, wenn man Hunger hatte, wurde abgeschafft. Auch traditionelle Familienstrukturen wurden von den Kollektivleitungen zerschlagen, sexuelle Kontakte auf einmal die Woche beschränkt, Zwangsverheiratungen vorgenommen.

Außenpolitisch orientierte sich die Pol-Pot-Herrschaft an den Plänen seines pro-amerikanischen Vorgängers, der Herstellung eines Großmachtstatus des kambodschanischen Staates. Bereits zwanzig Tage nach der Befreiung überfielen kambodschanische Truppen vietnamesisches Territorium, 1977 folgte ein Überfall auf Thailand. 1979 schließlich marschierten vietnamesische Truppen in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh ein, Pol Pot und seine Gefolgsleute zogen sich ins Hinterland zurück und nahmen den Guerillakrieg auf, der erst mit einem Friedensabkommen 1991 ein vorläufiges Ende finden sollte.