Der zweite V-Effekt

Mit den jetzt veröffentlichten Fragmenten wird Brecht uns wieder fremd

Auf den ersten Blick mag man kaum glauben, daß Bertolt Brecht diese Sätze formuliert haben soll: "Die Hechtin im Karpfenteich (Bebel)" ist da zu lesen, oder: "Ich, die ich 'auf einem Besenstiel durch die Ökonomie ritt'". Oder: "Wir sind doch keine Menschenfresser hier in Hannover." Oder: "Nun aber Schluß / Ins Büro ich muß / Noch einen Kuß!" So aber steht es in der zweibändigen kommentierten Brecht-Ausgabe des Aufbau- und Suhrkamp Verlages. Sie beinhaltet Stückfragmente und -projekte von 1917 bis zum Todesjahr Brechts 1956, die Einblicke in Brechts Arbeitsweise und hinter die Fassade der Resultate erlauben: eine Schlüssellochperspektive ohne Indiskretion - die Texte sind vom Autor autorisiert.

In diesen "Fragmenten" wird Brecht, der am 10. Februar 1998 hundert Jahre alt würde, plötzlich wieder sehr jung.

"Ich möchte gern eine Kunst machen, die die tiefsten und wichtigsten Dinge berührt und tausend Jahre geht: Sie soll nicht so ernst sein." (1927). Ganz leicht jedoch ist sie nicht zu haben. Zwischen den Zeilen erzählen die Fragmente auch von der Arbeit und Disziplin des Schriftstellers, von Stoffsuche und Themen-wahl, von Stilübungen und handwerklichem Training. Die Bände enthalten unter anderem Lustspiel- und Volksstückkonzepte, abgebrochene Opern- und Operettensplitter, Revue-Entwürfe mit Nummerndramaturgie, Gedichte. Einiges ist, korrigiert und überholt, in seinen Theater-, Prosa-, Lyrik-und theoretischen Werken aufgegangen, vieles nicht. Darüber informiert der ausführliche, wohltuend gebrauchsorientierte Anhang. Mit einem Drama über Rosa Luxemburg zum Beispiel beschäftigt sich Brecht über 25 Jahre und schließt nicht eine einzige Szene ab.

Zeitlebens läßt sich Brecht von der Literatur anderer anregen, benutzt die Werke so unterschiedlicher Autoren wie die der Brüder Grimm, von Grabbe, Shakespeare, Selma Lagerlöf oder die asiatische Mythologie als Materialhalde und greift immer wieder auf die Bibel zurück: "Sie ist so böse, daß man selber böse und hart wird und weiß, daß das Leben nicht ungerecht, sondern gerecht ist, und daß das nicht angenehm ist, sondern fürchterlich." (1916). Mit Hanns Eisler entwirft er 1937 sogar eine Goliath-Oper als antifaschistische Klassenkampf-Parabel: "Dem Land geht die Hirse für Goliath aus. (Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Hirse.)"

Knapp zwanzig Jahre früher plant er ein Drama mit dem Titel "David und Bat-Seba: Absalom", das ebenso unvollendet bleibt wie "Die Bälge oder Die Sonne bringt es an den Tag" (1920), in dem er die aktuelle Diskussion um eine Reform des Paragraphen 218 und das Problem ungewollter Schwangerschaft thematisiert. Nicht ohne biographischen Hintergrund: 1919 war Brecht Vater eines unehelichen Kindes seiner Freundin Paula Banholzer geworden. Die erste Szene, "Atelier", sollte ein "Gespräch der drei Männer im feurigen Ofen" sein (schon wieder biblisch, hier das Buch David), dann rät der "Inqui" (vermutlich Inquisitor) zum Fortpflanzungsstreik: "Es sind keine Betten da für Kinder, keine Tücher, keine Milch, und ihr vögelt immer weiter. Ich bitte euch, beherrscht euch, Leute!"

1921 entwirft er, nach der mittelalterlichen Legende, ein Drama über "Die Päpstin Johanna". Die Tochter englischer Eltern wird in Mainz geboren und, als Mann verkleidet, Nachfolger des 855 verstorbenen Papstes Leo IV. Erst zwei Jahre später, just beim Entbinden auf offener Straße, fliegt der Gender-Deal auf. Brecht klagt über die obrigkeitshörigen Historienwälzer, die kein vernünftiges Bild der Epoche vermitteln, "daß man etwa sähe, was der Papst aß, trank, wie er liebte und bedient wurde, ob er sich wusch, wie oft, und wie es mit dem Rauchen war! Und keine Geschichte der Kleidermoden, der Handwerke, der Geschäfte, der gesellschaftlichen Stellung der Kaufleute, Soldaten, Pfaffen." So dialektisch-materialistisch, wie er schreibt, recherchiert er auch, oder läßt dies seine Getreuen tun, vor allem Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin, Ruth Berlau, Käthe Rülicke, Isot Kilian. Im Rahmen der peniblen Studien zu "Büsching", einem Stück über den legendären Aktivisten und "Helden der Arbeit", Hans Garbe, macht Brecht eine Eingabe bei Wirtschafts- und Industrieminister Fritz Selbmann: "Welche Möglichkeit gibt es, Material über die ökonomische Entwicklung in der DDR einzusehen? Mich interessieren für literarische Arbeiten Angaben über Demontagen, Reparationen, Steigerung der Arbeitsproduktivität, Steigerung des Reallohns usw. Diese Angaben sind, soviel ich weiß, Verschlußsachen. Können Sie mir dazu verhelfen?" (28.März 1956) Eine Antwort ist nicht überliefert. Der Entwurf blieb liegen. Heiner Müller hat dieses Sujet später im "Lohndrücker" aufgegriffen.

Staatenlos seit der deutschen Ausbürgerung 1935, bemüht sich Brecht nach der Rückkehr aus den USA um einen österreichischen Paß, um sich wieder frei bewegen und arbeiten zu können. Unter-stützt durch den Komponisten Gottfried von Einem, Mitglied im Kuratorium der Salzburger Festspiele, konzipiert er deshalb werbend - als Pendant zu Hofmannsthals "Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes" (1911) - den "Salzburger Totentanz". Darin ist selbst der Tod käuflich, folglich sind keineswegs alle Menschen vor ihm gleich: "Ist schon so weit, daß ich gleich einpack / Wenn ich zwei Taler klingeln hör in eim Hosensack / Oder Geldscheine riech und Kassenbücher / Da brauch ich gleich um den Kopf nasse Tücher / Denn nix vertreibt mich aus meinem Feld / So grausam wie dies verdammte Geld." Was der Kaiser nur zu gut versteht: "Gevatter Tod, beruhig dich / So schimpfen die Leut auch über mich. Und unterscheiden nur zur Not / Noch den Kaiser und den Tod."

Das Stück sollte im Freien aufgeführt werden, das Publikum in der Mitte sitzen. In einer Zeit der Kommunistenhatz, als es wieder unpopulär wurde, die Kategorien Arm und Reich politische zu nennen, scheitert das ambitionierte Projekt. Gottfried von Einem muß, unter öffentlichem Druck, von der Festspielleitung zurücktreten. Brecht wird 1950 ...sterreicher und lebt in Berlin.

Dort skizziert er 1948 eine "Dante-Revue" mit satirischen Szenen zu aktuellen Themen. "Dante" über "Die Verkäufer" auf dem Markt: "Sie sind in Schweiß", worauf "Der Zeitgenosse" antwortet: "So ist es. Solche Mühe / Bereitet es, den Mitmensch zu betrügen."

Im passenderweise unvollendeten Vorwort zu einer geplanten Gedichtanthologie schreibt Ingeborg Bachmann 1969 über Brecht: "Ich glaube, er hat kein Publikum" und: "Brecht ist am besten, wenn er ÝunbekanntÜ wird." Dies zumindest leisten die Fragmente: Brecht wird plötzlich wieder fremd.

Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 1 und 2. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar / Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1997, 1348 S., DM 176