Die flache Hierarchie des Jazz

Der niederländische Komponist Theo Loevendie über Kommunikation, Improvisation, Afrika und Darmstadt. Ein Gespräch mit dem Composer in Residence bei den "Musiktagen" in Hitzacker

Er wünsche sich "daß Musik in das tägliche Leben integriert ist". Der niederländische Komponist Theo Loevendie verweist, als er diesen Gedanken formuliert, auf Afrika, wo Musik auch heute "eine soziale Rolle" hat, die Menschen zusammenbringt. "Musik muß Kommunikation sein", sagt der Composer in Residence der "Sommerlichen Musiktage" in Hitzacker/Niedersachsen. Europäische Musik sei davon geprägt, daß "unsere Gesellschaft sehr zersplittert ist". Was Kommunikation angehe, "funktioniert Popmusik ein bißchen besser, die Leute tanzen danach". Er frage sich, ob sich nicht in der Zukunft neue Formen klassischen Musiklebens entwickeln. Und vielleicht sei diese Frage auch Ausdruck des Einflusses von außereuropäischer Musik in seinem Denken als Komponist, meint Loevendie.

Der Jazz ist für Loevendie die wichtigste populäre Musik, über die solche Einflüsse in den Westen gelangt sind. Zum Beispiel die Improvisation: Er bedaure deren Verschwinden in der europäischen Musik, sagt der Komponist. Über die Schwarzen in den USA, "eine fünfte Kolonne der dritten Welt", ist sie wieder in den Westen gekommen". Seine Wertschätzung des Jazz, von der im Programmheft der Anfang August zuende gegangenen Musiktage gesprochen wird, bezieht Lovendie allerdings zunächst auf die Musikpraxis: Die Zusammenarbeit von Musikern sei im Jazz "vielleicht sozial entwickelter, weil die Hierarchie nicht so groß ist", weil der Komponist wesentlich stärker an der Ausführung seiner Werke beteiligt sei. Die Konsequenz für seine Arbeit müßte eigentlich darin bestehen, ein eigenes Ensemble zu haben - das sei derzeit nicht der Fall, aber "er denke darüber nach". Es gefalle ihm sehr, mit Interpreten zusammenzuarbeiten, er organisiere auch Konzerte.

Aber auch die Improvisation ist für den Komponisten Loevendie interessant: "Man sagt, wenn Leute älter werden, kommen sie auf ihre Vergangenheit zurück", meint er ein bißchen selbstirionisch, und so habe er in jüngster Zeit "gewisse Experimente gemacht": "Ich habe ein Kammermusikstück mit einer Solopartie geschrieben, aber die Solopartie ist ein Strich, nur am Anfang gibt es ein paar Noten." Im Vorwort des Stücks betont er, daß diese Partie von einem Musiker mit viel Erfahrung gespielt werden soll. Denn, so sagt Loevendie: "Das ist etwas, was ich im Jazz gelernt habe: Man läßt als Komponist soviel Freiheit, wie ein Musiker realisieren kann." Wenn er für das Amsterdamer Konzertgebouw-Orchester etwas schreiben würde, "wäre Improvisation Blödsinn, die wüßten gar nicht, was sie machen sollen, würden vielleicht Tonleitern spielen - gar nicht interessant". Interessant sei allerdings die Reaktion des Nieuw-Ensemble auf den Improvisationspart des Solisten gewesen: Die Musiker hätten gefragt, was sie sonst nie getan hätten, warum sie nicht improvisieren dürften - Konsequenz war ein Workshop mit den Musikern.

Die zweite seiner Kompositionen mit Imrovisationsanteilen hat er für einen afrikanischen Djembe-Spieler geschrieben. Er sei - "mit einer gewissen Distanz natürlich - sehr zu Hause in Afrika, Jazz ist nicht weit weg von afrikanischer Musik". Immer wieder kommt das Gespräch auf außereuropäische Musik zurück. "Wenn sie einem Afrikaner eine Beethoven-Symphonie vorspielen, sagt der auch, das ist primitive Musik - weil die Rhythmen sehr einfach sind", relativiert Theo Loevendie die eurozentrische Weltsicht. "Ich glaube, es ist unausweichlich, daß die Musik des Westens von der anderer Kulturen beeinflußt wird, die Kommunikation ist so viel leichter als früher." Diese Tendenz sei "eigentlich in Deutschland noch nicht so wichtig". In den Niederlanden sei der Bezug zur Tradition großer europäischer Meister "etwas weniger ausgesprägt" als in Deutschland, "deswegen gibt es bei uns große Offenheit".

Hat er mit seiner Musik einen Platz in Deutschland? Ja: "Man ist auf der Suche nach Alternativen" zu dem, was Theo Loevendie "Post-Darmstadt" nennt, die von seriellen Verfahren geprägte Komposition. Obwohl er "großen Respekt" vor dieser Richtung habe und ihre Dominanz als Reaktion auf das vor 1945 in Deutschland herrschende musikalische Pathos vielleicht eine "historische Notwendigkeit" gewesen sei, repräsentiere diese Musik, daß "das Technische in unserer Gesellschaft zur Religion geworden ist". Auch möge er "das Elitäre nicht", sagt Loevendie - ihm gehe es nicht darum, sagt er bewußt übertreibend, mit großen Komponisten zusammen in Darmstadt neue Partituren zu lesen.

Auch das "Übergefühlsmäßige", wie es bei Wagner zu finden ist, sei nicht seine Welt. Er sei auf der Suche nach einer Balance zwischen Ratio und Emotion. Beim Schreiben seiner "Six Turkish Folkpoems" habe er entdeckt: "Je emotionaler ich bin, um so notwendiger ist es, etwas detailliert zu machen."