Glänzender noch als Angkor

Anti-bolschewistischer Freiheitskämpfer und Protagonist bolschewistischen Terrors: Pol Pot

Die kurze Geschichte des von den Roten Khmer regierten "Demokratischen Kampuchea" kennzeichnet einen der Höhepunkte staatlicher Barbarei in diesem Jahrhundert des Staatsfetischismus. Unter der Herrschaft der von Pol Pot angeführten Organisation starben zwischen Sommer 1975 und Januar 1979 unvorstellbar viele Menschen. Für die politische Qualifizierung dieser Herrschaft - nicht jedoch für das konkrete individuelle Leiden und Sterben - ist es gleichgültig, ob die genaue Zahl unter einer Million lag oder bis zu drei Millionen reichte. Gleichgültig, weil das Gros der heutigen Ankläger dies von ihren jeweiligen politischen Ambitionen und Launen abhängig macht - hier genügt ein Blick in die entsprechenden Druck- und TV-Erzeugnisse.

Gleichgültig aber auch, weil Massensterben von rationaler Einsicht und affektiver Verarbeitung wie Wut und Trauer nicht bewältigt werden kann. Wenn schon mit dem Mord an einem Menschen die Welt getötet wird, wie soll man dann mit dem gewaltsamen Tod Hunderttausender leben, wenn man ihn nicht fürs politische Geschäft verwerten will? Nicht gleichgültig sind in diesem Zusammenhang jedoch andere Zahlen, die Aufschluß über Vorgeschichte, Täter, Mittäter und Zuschauer geben.

Als die Roten Khmer 1975 die Macht übernahmen, waren durch die US-amerikanischen Bombardements nach unterschiedlichen Angaben zwischen 700 000 und 1,4 Millionen Kambodschaner getötet worden. Tausende waren in den Folterkammern des US-hörigen Generals Lon Nol verschwunden. Die Infrastruktur des Landes war nahezu vollständig zerstört. Kambodscha war 1970 in den amerikanischen Indochinakrieg hineingezwungen worden. In einen Krieg, in dem das amerikanische Imperium rund 13 Millionen Tonnen Bomben mit einer insgesamt 450mal stärkeren Sprengkraft als die der Hiroshimabombe abwarf, in dem gezielt Zivilkrankenhäuser bombardiert und durch die Zerstörung von Deichen vorsätzlich Flutkatastrophen herbeigeführt wurden. Einen Krieg, in dem für die Freiheit des Marktes mindestens drei Millionen Nordvietnamesen von der US-Army umgebracht wurden, einen Krieg, in dem zur Verteidigung westlicher Demokratie gezielt chemische Waffen eingesetzt wurden, unter deren Spätfolgen noch künftige Generationen leiden werden.

Die Führungsmacht der westlichen Wertegemeinschaft hatte beschlossen, das unbotmäßige Indochina "in die Steinzeit zurückzubomben". Nach offiziellen Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) litten 1969 bis 1971, also während des Höhepunktes des Indochinakrieges, allein in Asien 751 Millionen Menschen an Unterernährung. Damit dies so bleibe, damit der frühzeitige Tod durch Verhungern, das Sterben an einfachen Infektionskrankheiten marktgerecht als "strukturell" und selbstverschuldet in demokratischer Freiheit weitergehen konnte, wurde Indochina von den USA zerstört.

Auch diese Zahlen können die konkreten Verheerungen, den konkreten Massentod weniger als unzureichend ausdrücken. Außerdem gerät ihre Aufzählung nicht zu Unrecht in den Verdacht pathetischer Aufrechnung, auch wenn deutlich wird, daß viele der unter dem Regime Pol Pots Gestorbenen auf das Konto der US-amerikanischen Zerstörung gehen. Dennoch können diese Zahlen einen Eindruck davon vermitteln, wer, wenn über Pol Pot gerichtet wird, mit auf der Anklagebank sitzen müßte. Dazu gehörte auch die damalige BRD-Elite, die zu ihrem Bedauern am Gemetzel nicht teilnehmen durfte, es aber gleichwohl hochleben ließ, weil dabei so edle Dinge wie die "Freiheit Berlins" verteidigt wurden.

Das politische Konzept der Roten Khmer bestand stets aus purem Befreiungsnationalismus. Pol Pot trat erstmals 1952, noch unter seinem alten Namen Saloth Sar, öffentlich in Erscheinung, als er aus dem Pariser Exil in einem Offenen Brief seinem späteren Verbündeten, dem von der französischen Kolonialmacht eingesetzten König Sihanouk vorwarf, die "heilige Identität des Khmer-Reiches" an die Vietnamesen verraten zu haben. Er erklärt darin den König für abgesetzt und seine Gruppe, damals noch eine Fraktion in der Kommunistischen Partei Indochinas, zum "einzig authentischen Vertreter des kambodschanischen Volkes".

Wenige Jahre darauf verfaßte ein anderes späteres Führungsmitglied der Roten Khmer, der aus der traditionellen Adelselite Kambodschas stammende Khieu Samphan, eine Dissertation, die zum wegweisenden Dokument der Pol-Pot-Herrschaft werden sollte. Diese Arbeit mit dem Titel "Die Wirtschaft Kambodschas - Aspekte ihrer künftigen Entwicklung" war inspiriert von der Vision des "Geschlossenen Handelsstaates", wie sie der völkische deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Eine im wesentlichen landwirtschaftliche Produktion sollte laut Khieu Samphan autark auf der Basis einer durch Nationalbewußtsein egalisierten Volksgemeinschaft ein einfaches, aber "gerechtes" Dasein für all diejenigen ermöglichen, deren Sinn nicht von "dekadentem Luxus" und "ausländischen Einflüssen" geprägt war. Wie bei Fichte erscheint in dieser Arbeit des "Volk" als ein existenziell gegebener Naturorganismus, dessen "Gesundheit" vor allem von seiner Isolierung gegenüber dem "Ausland" abhängt. Damit war vor allem das Nachbarland Vietnam gemeint. Die traditionelle Konkurrenz der kambodschanischen Eliten gegenüber ihren lange Zeit dominierenden vietnamesischen Rivalen wurde von den Roten Khmer an der Macht auf ein bis dahin nicht gekanntes Niveau getrieben. Dies machte sie für ihre Bündnispartner, China und später die USA, besonders attraktiv.

Khieu Samphans Dissertation wurde übrigens in den siebziger Jahren vom damaligen Kommunistischen Bund Westdeutschland auf deutsch herausgegeben. Ihr Übersetzer, der inzwischen zum lupenreinen Musterdemokraten westlichen Zuschnitts gewandelte Gerd Koenen, gestand kürzlich der FAZ seine "insgeheime Erleichterung beim Lesen des Ýrelativ maßvollen Programms einer geschlossenen NationalwirtschaftÜ".

Pol Pots Kritik am "nationalen Verrat" des Königs leuchtete diesem bereits in den fünfziger Jahren so ein, daß er auf den Thron verzichtete und sich als Anführer der Partei "Sozialistische Volksgemeinschaft" mit den Titeln Prinz und Präsident begnügte. Khieu Samphan wurde 1962 Wirtschaftsminister, scheiterte jedoch mit der Umsetzung seiner Pläne am Widerstand des US-Hausmeisters, der bekanntlich Freihandel bevorzugt und geschlossene Handelsstaaten in der Liste seiner Kriegsgründe führt. Khieu Samphan wurde entlassen und flüchtete zu seinen inzwischen als nationale Befreiungskämpfer tätigen Freunden in den Dschungel. Auch Sihanouk blieb trotz immenser politischer Anpassungsleistungen, inklusive physischer Liquidierung der antiamerikanischen Opposition, ein ähnliches Schicksal nicht erspart. 1970 wurde er von der US-Marionette Lon Nol gestürzt, die Kambodscha zum US-Militärstützpunkt machte. Mit wenig Erfolg: Nicht nur die Unterklassen verweigerten sich der zugedachten Rolle als US-amerikanisches Kanonenfutter, auch die traditionellen Eliten empfanden diese Demütigung vorübergehend schmerzlicher als ihren alten Groll gegen die Vietnamesen. So entstand aus dem Bündnis von Adel und Nationalkommunisten jene Nationale Befreiungsfront, die ab 1975 als Regierung des "Demokratischen Kampuchea" antrat, um staatsterroristisch die Idee des organischen Volkskörpers zu verwirklichen.

Neben dem völkischen Nationalismus war der Arbeitsfetisch der traditionellen Arbeiterbewegung eine tragende Säule des Rote-Khmer-Konzepts. Arbeit wird unter diesem Einfluß nicht als eine vom Kapital oder anderen (in Kambodscha vorkapitalistischen) Mächtigen organisierte Tätigkeit der Unterklassen zum Nutzen der Organisatoren begriffen, sondern als eine das menschliche "Wesen" kennzeichnende Qualität. Die noch vorhandenen Produkte bereits geleisteter Arbeit werden als kollektives Gesamtkunstwerk bewundert, an dem höchstens die private Verfügung kritikabel erscheint. So gilt dann die Plackerei vergangener und gegenwärtiger Generationen als deren existenzielle Bestimmung.

Daß noch kaum ein Arbeitsprodukt bisher Ergebnis einer von äußeren Zwängen freien Tätigkeit auf der Basis eines Bedürfnisses nach ihr war, sondern stets Vollzug, meist unverstandener, gesellschaftlicher Gewaltausübung, ist für Arbeitsfetischisten nicht nachvollziehbar. Wenn komplementär zur Bestimmung einer Bevölkerung als nationaler Organismus die Definition der Menschen als existenzielle Arbeitstiere tritt und dieses Wahnsinnspaar die politische Agitation in einer Krisensituation antreibt, wird gern auf die glorreichen Arbeitsleistungen der nationalen Vergangenheit als Vorbild verwiesen.

Pol Pot fand dieses Vorbild in der mittelalterlichen Gesellschaft von Angkor Wat. Die architektonischen Relikte dieser Kultur galten ihm als Ausdruck eines dem Volk naturhaft innewohnenden Schaffensdranges: "Unser Volk war fähig, Angkor zu bauen, also kann es jede Aufgabe erfüllen." Weil das Volk aber inzwischen nicht nur siebenhundert Jahre "Erfahrungen" auf dem Buckel hatte, sondern auch von einer die "traditionelle Weisheit" mit aktueller "wissenschaftlicher" Erkenntnis amalgamierenden Elite angeführt wurde, war es zu noch Höherem berufen: "in eine neue Ära der Geschichte Kampucheas, noch glänzender als die Epoche von Angkor" einzutreten. Unter den Bedingungen der weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur durch die US-Amerikaner und der nationalistischen Abschottung und Aggression gegen die vietnamesischen Nachbarn bedeutete ein solches Aufbauwerk den massenhaften Tod. "Nur" ein Teil der Opfer - die Angaben schwanken zwischen 200 000 und 500 000 - fiel dem direkten Terror der staatlichen Repressionsorgane zum Opfer. Der größte Teil starb so, wie es Bewohnern der sogenannten Dritten Welt von der herrschenden Ordnung zugedacht ist: an Hunger, Erschöpfung, heilbaren Krankheiten. Nur war hier das direkte Kommando in Form der Roten Khmer unmittelbar erkennbar. Darin, und nicht in den konkreten Toten, die als Opfer der strukturellen Gewalt des Weltmarktes sonst fraglos in Kauf genommen werden, bestand der Skandal für die demokratische Weltöffentlichkeit.

Deren Verlogenheit wurde deutlich, als 1979 durch vietnamesische Intervention die Herrschaft der Roten Khmer gestürzt und die zuvor unterlegene und nach Vietnam geflüchtete gemäßigt-nationalistische Fraktion um Heng Sarim und den heutigen Staatschef Hun Sen an die Macht gebracht wurde. Die Befreiung Kambodschas vom geschlossenen Handelsstaat Pol Pots und Sihanouks wurde als sowjetische Einflußvergrößerung - die sie zweifellos auch war - einmütig verurteilt.

Pol Pot fand sich in einer wohl einmaligen Doppelrolle wieder: Einerseits als Realisierer und Personifikation aller Phantasien über "bolschwistischen Terror", andererseits als antibolschewistischer nationaler Freiheitskämpfer. Als solcher wurde er von den USA und ihren asiatischen Verbündeten finanziell und militärisch ausgerüstet und seine Regierung von der "Völkergemeinschaft" der UNO als "legitime Vertretung des kambodschanischen Volkes" hofiert. Daß auf amerikanischen Druck neben den Sihanouk-Leuten nun auch die Anhänger des inzwischen gestorbenen Generals Lon Nol gleichberechtigt in die "Widerstandskoalition" gegen die "moskau- und vietnamesenhörige Usurpatorenclique" aufgenommen werden mußte, dürfte Pol Pot kaum gestört haben. Die westliche Wertegemeinschaft nahm ihn sogar gegen seine Verurteilung als "Völkermörder" in Schutz - weil es nicht ihre Verurteilung war.

Am 20. August 1979 verkündete nach zehntägiger Verhandlung das "Revolutionäre Volkstribunal" in Phnom Penh das Todesurteil über Pol Pot und seinen Stellvertreter und Außenminister Ieng Sary wegen erwiesenen Massenmordes. Für die demokratische Öffentlichkeit des Westens war dies ein stalinistischer Schauprozeß zur Legitimierung der vietnamesischen Intervention.

Eifriger als die übrige in demokratischer Eintracht gleichgeschaltete ...ffentlichkeit taten sich hierzulande in den siebziger Jahren die an China orientierten marxistisch-leninistischen Mini-Avantgardeparteien wie KPD und KBW hervor, wenn es um die Verteidigung des "Demokratischen Kampuchea" unter Pol Pot gegen die "sowjetisch-vietnamesische Aggression" ging. Die Post-68er-Linke spielte damals noch eine kleine Rolle, wußte aber damit nichts anzufangen und sehnte sich mehrheitlich nach einer Heimat. Die ML-Parteien waren ungefähr mit dem Machtantritt Pol Pots auf die fixe Idee gekommen, das deutsche Vaterland gegen den "sowjetischen Sozialimperialismus" verteidigen zu müssen. Eine "antihegemonistische" Autarkiebewegung wie die Roten Khmer kam ihnen da gerade recht. Ihr Setzen auf Pol Pot hat sich für die intellektuellen Führungskader dieser Parteien ausgezahlt. Nach den Selbstauflösungen von KPD und KBW - die nicht zufällig durch eine kürzliche ähnliche Veranstaltung der Roten Khmer wieder ins Gedächtnis gerufen wurde - gelangten prominente Mitglieder in nicht unbedeutende Positionen von Politik und Medien. So hat es eine ehemalige Pol-Pot-Anhängerin zur Bundestasgsvizepräsidentin gebracht, frühere Sympathisanten der Roten Khmer bearbeiten heute die "totalitäre" DDR-Vergangenheit und sorgen für Begeisterung bei demokratisch legitimierten Kriegseinsätzen.

Bis Ende der achtziger Jahre wird Pol Pots "Widerstandskoalition" vom Westen materiell und ideell unterstützt. Als die Sowjetunion den Geist aufgibt und die vietnamesischen Truppen aus Kambodscha abziehen, wird Sihanouk erst zum Chef des "Nationalrat für Kambodscha" ernannt und schließlich nach Wahlen 1993 wieder zum König. Bei diesem "ersten freien Wahlen" erringt die von Sihanouks Sohn geführte royalistische FUNCIPEC die Mehrheit, gefolgt von den Postkommunisten Hun Sens. Die Rivalen mögen sich nicht, trachten einander sogar nach Macht und Leben, stehen jedoch gemeinsam für Markt und Demokratie, das heißt für Unterentwicklung und Elend ein. Pol Pot wird nicht mehr gebraucht, vor allem nicht mehr als antibolschewistischer Freiheitskämpfer. Als Schreckgespenst des bolschewistischen Dracula wird er allerdings weiterhin in Dienst genommen. Und das mit zunehmender Schamlosigkeit: Auf dem internationalen Parkett fordern derzeit Pol Pots langjährige amerikanische Finanziers dessen Überstellung an ein internationales Tribunal, das ausgerechnet von jener Instanz berufen werden soll, welche die Roten Khmer bis vor wenigen Jahren als einzig legitime Vertretung Kambodschas anerkannte - der UNO.

Die Verurteilung Pol Pots zu "lebenslänglichem Hausarrest" durch ein "Volksgericht" der Roten Khmer und deren Umwandlung in eine "liberale Organisation" wird als Farce beargwöhnt. Einen rationalen Kern hat dieser Argwohn nur in der imperialistischen Anmaßung, die "Rechtsstaatlichkeit", die Pol Pot als Freiheitskämpfer mit Geld und Waffen ausstattete, müsse den nun Nutzlosen auch verurteilen dürfen. Jenseits dieser Anmaßung kann sowohl auf die Metamorphose der deutschen ML-Kader in lupenreine demokratische Mitmacher verwiesen werden, sondern auch auf ein quantitativ wie qualitativ bedeutsameres Beispiel. Die Deutschen selbst verwandelten nach 1945 nach vollzogenem Massenmord ihren volksgemeinschaftlichen Staat in die liberale Organisation BRD. Und das war schließlich der Beginn einer Erfolgsgeschichte.