Schizos an der Barrikade

Brasilien: Nach dem Streik der Ordnungshüter zerbricht auch die eigenartige Allianz mit "Sem Terras"

Spätestens an der Barrikade scheiden sich die Geister. Dieses scheinbar unumstößliche Dogma gilt in Brasilien nicht mehr. LandbesetzerInnen und Linke aus den Gewerkschaften solidarisierten sich im Juli mit streikenden Polizisten, deren brutales Vorgehen gegen Oppositionelle kaum in Vergessenheit geraten kann. Und den streikenden Sicherheitskräften stehen Soldaten gegenüber, die ihre Waffen jetzt auf BehördenbesetzerInnen und steineschmeißende Angehörige der Polizei richten. Nicht einmal die vielzitierten politischen BeobachterInnen wissen, auf welche Seite sie sich schlagen sollen.

Der kleinste gemeinsame Nenner dieser brisanten Allianz ist der Unmut über die individuelle soziale Lage und der naheliegende Schluß, daß die Oberen, die Reichen und damit die Regierenden an allem schuld sind. Ein alter Hut für die Gewerkschaften, und auch die Landlosenbewegung "Movimento Sem Terra" (MST) führt schon seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen zunehmende Verarmung und ungerechte Landverteilung. Landesweit besetzen "Sem Terras" brachliegendes Land und Agrarbehörden, werden gewaltsam geräumt und juristisch verfolgt, sind ständig in der Presse, die ihr Anliegen immer populärer machte. Spätestens ihr großer Sternmarsch im April auf die Hauptstadt Brasilia machte sie zum Zugpferd des sozialen Protestes gegen die Regierung Henrique Cardoso. Fast die gesamte Opposition - StudentInnen, Obdachlose und auch die große Arbeiterpartei PT - schloß sich der plötzlich erstarkten Protestbewegung an, die für das MST durchaus erfolgreich ist: Immer mehr Landbesetzungen werden legalisiert, und es gelang ihnen, die soziale Unzufriedenheit in einen breiten Protest gegen die Regierungspolitik zu kanalisieren.

Der Erfolg wurde zum Programm. Je breiter der Protest, umso besser, egal, wer die Unzufriedenen sind. Schon seit Mitte dieses Jahres sind die öffentlichen Angestellten zu einem höchst aktiven Teil der Bewegung geworden, da sie Opfer eines besonderen Konkurses sind: Viele der Bundesstaaten, vor allem im ärmeren Nordosten Brasiliens, sind inzwischen pleite, und die Zahlung der Gehälter an die Bediensteten wurde eingestellt. Ausgabenkürzungen und Entlassungen heizen die Situation weiter an, während das Parlament dabei ist, per Verfassungsänderung eine Verwaltungsreform zu beschließen, die dem herkömmlichen öffentlichen Dienst den Garaus machen würde.

Diese Entwicklung bedrückt offensichtlich auch die Garanten für Sicherheit und Ordnung, vor allem die unteren Chargen der Zivil- und der Militärpolizei. Sie hielten sich in einem Land, in dem der Tod durch Schußwaffen ganz oben in der Statistik rangiert, für unverzichtbar und konnten ihre bescheidenen Gehälter stets durch gute Kontakte zu besonders sicherheitsbedürftigen Persönlichkeiten sowie zum Drogenhandel aufbessern. Aber bankrotte Bundesstaaten können niemanden bezahlen. Und die Gehälten der Vorgesetzten sorgen nicht selten für große Augen. Sie verdienen ein Vielfaches - nicht selten bis zu 20 000 US-Dollar im Monat. Regierungsbeamte im armen Bundesstaat Alagoas sollen sogar 120 000 US-Dollar verdienen, das Tausendfache des Mindestlohnes, berichtet die lateinamerikanische Radioagentur "Pulsar" aus Quito.

Der PolizistInnenstreik begann Ende Juni im zentralen Bundesstaat Minas Gerais und weitete sich schnell in ganzen Land aus. Hauptforderung waren Gehaltserhöhungen um 50, teilweise bis zu 84 Prozent. Kaum zwei Wochen später hatten sechs Bundesstaaten Armee-Einheiten angefordert, Polizeiaufgaben zu übernehmen und gegen die Streikenden vorzugehen. Beim letzten schweren Zusammenstoß am 29. Juli in Fortaleza wurden fünf Beteiligte verwundet, als 500 Streikende demonstrierten. Ein Soldat kam eine Woche zuvor ums Leben, als er einen Bankraub verhindern wollte.

Nachdem der Polizeistreik von Präsident Cardoso zur Chefsache erklärt wurde, bröckelte die Bewegung. Lediglich in Minas Gerais erreichten die Streikenden die Zusage von Lohnerhöhungen, im Rest des Landes zeigten Drohungen, Armee-Einsatz und vage Versprechungen ihre Wirkung. Am 29. Juli kehrten die letzten Streikenden an ihre Arbeitsplätze zurück. Justizminister Resende kündigte an, 600 MilitärpolizistInnen und 100 zivile BeamtInnen würden "wegen Organisierung eines illegalen Streiks" aus dem Dienst entlassen. In Fortaleza wurden 23 der an den Kämpfen beteiligten PolizistInnen festgenommen.

Damit ist die unmittelbare Interessensgemeinschaft von "Sem Terras" und Teilen des Polizeiapparates nach weniger als zwei Monaten beendet. Noch Ende Juli - während eines Protestwochenendes in 13 Bundesstaaten, an dem fast alle Berufszweige vom Lastfahrer über Bankangestellte bis zur Polizei gegen die Sparpolitik von Präsident Cardoso auf die Straßen gingen - berichtete die Presse von den ersten Früchten der Annäherung: Im Süden Brasiliens umzingelten 500 Militärpolizisten eine Gruppe "Sem Terras", die ein der General Motors geschenktes Gelände besetzt hielt, um ihnen nach einer vorläufigen Vereinbarung beim Abzug zu applaudieren und herzlich die Hände zu schütteln.

Wer allerdings nach einer klaren Begründung für die Solidarität seitens der "Sem Terras" fragt, bekommt nur vage Antworten. "Das Gehalt der PolizistInnen ist essentiell," sagt beispielsweise der Chef des Gewerkschaftsverbandes CUT, Vicente Paolo da Silva. Wie bei anderen Repräsentanten kaum ein Wort zu dem Widerspruch, mit denjenigen zusammenzugehen, die als Korporation an diversen Massakern von BesetzerInnen und Erschießungen sogenannter Rädelsführer beteiligt sind.

Nur eines ist gewiß: Das taktische Vorgehen vom MST ist ausgefeilt und beruht auf der langfristigen Strategie, ständig durch Aktionen Druck zu erzeugen und durch breite Mobilisierung die Regierungspolitik politisch zu delegitimieren. Kein "Sem Terra" ist so naiv zu glauben, bei einer nächsten Besetzung nicht von der Kugel eines ehemals streikenden Polizisten getroffen werden zu können. Was aber, wenn künftig die Zusammenarbeit nicht nur für die Medien improvisiert wird? Die politische Ausrichtung einer solchen gemeinsamen Bewegung könnte sehr schnell das Ende des Barrikadenbaus bedeuten.