Somalia den Anschluß weggeschnappt

Bei der Leichtathletik-WM in Athen war die ganze Grazie deutscher Spitzensportförderung zu besichtigen

Sieht man Michael Johnson aus den USA, den neuen Weltmeister über 400 Meter, schaut man zweifellos auf einen Weltstar. Der Mann ist intelligent, charmant, redegewandt, sieht gut aus und ist ein Spitzensportler. Ähnliches Lob läßt sich über die Sprinterin Merlene Ottey aus Jamaica oder die neue 100-Meter-Weltmeisterin Marion Jones aus den USA formulieren.

Für die deutschen Leichtathleten hingegen gilt die am Sonntag in Athen zu Ende gegangene Leichtathletik-WM als großer Erfolg. Deutschland hat nämlich auch Weltmeister: Sie heißen Sabine Braun, Astrid Kumbernuss und Heinz Weis, und so sehen sie auch aus.

Einen "Krisenbrand im Spitzensport" diagnostizierte vor zehn Jahren, im Oktober 1987, die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Anlaß war damals das schlechte Abschneiden der BRD-Leichtathleten bei der WM in Rom. Man hatte in der Nationenwertung den 18. Platz belegt, "hinter Somalia", wie Multifunktionär Willi Daume erregt feststellte. Der CDU-Sportpolitiker Engelbert Nelle konnte die deutschen Leichtathleten "nur warnen", und seinem SPD-Kollegen Wilfried Penner schwante ganz Übles: "Es kommt noch so weit, daß wir von Djibouti oder Burundi überholt werden."

Also wurde gehandelt, wie man in Deutschland handelt, wenn Somalia, Djibouti oder Burundi drohen. Zu diesem Zweck ignorierte man den Trend im internationalen Sport, der sich bei der WM in Rom erstmals in fast allen Disziplinen zeigte, daß nämlich die Spitzensportler nicht nur als Weltstars wahrgenommen werden, sondern auch so leben. Daß die damaligen Weltmeister Said Aouita, Sergej Bubka, Ingrid Kristiansen, Rosa Mota und Jacky Joyner-Kersee selbst ihre Sponsoren akquirierten, selbst die Trainingslager und Trainer bezahlten, selbst die Vermarktung in die Hand nahmen und Funktionäre nicht mehr beschimpften, sondern schlicht ignorierten, war deutschem Wesen sehr fremd. Die höchste Auszeichnung war das Silberne Lorbeerblatt, ausgehändigt vom Bundesinnenminister.

Dieser Umbruch im Spitzensport hatte auch die DDR erfaßt. Statt der "Diplomaten im Trainingsanzug", wie Walter Ulbricht die Athleten bezeichnet hatte, gingen für die DDR selbstbewußte Sportler an den Start: Silke Möller gewann, unter ihrem Mädchennamen Gladisch, in Rom beide Sprintstrecken, und auch der Stern von Heike Drechsler, damals Daute, ging vor zehn Jahren auf. Zusammen mit der 400-Meter-Hürdenläuferin Sabine Busch hatte Silke Möller kurz vor den Olympischen Spielen 1988 in Seoul offen den Anschluß der DDR an die neue Entwicklung im Weltsport gefordert: "Natürlich würden auch wir gern etwas von dem Geld sehen, das wir mit unseren Leistungen verdienen. Wenn ich schon höre, daß die sowjetischen Sportler für Seoul mit Kreditkarten ohne Obergrenze ausgestattet werden."

In Westdeutschland hatte man bis zur WM in Rom noch geglaubt, Athleten wie Rolf Danneberg oder Claudia Losch, beide Goldmedaillengewinner bei den vom Osten boykottierten 84er-Spielen in Los Angeles, repräsentierten Weltklasse. Doch die "Enttäuschung von Rom" (FAZ) führte zu hektischer Staatsaktivität: Olympiastützpunkte wurden eingerichtet, die Bundestrainer erhielten leistungsbezogene Verträge, die Gelder des Innenministeriums wurden an Erfolge geknüpft, und Sporthilfe-Chef Josef Neckermann warnte vor Sportlern als "Beamten mit Rentenansprüchen".

Die vom Bonner Staat so hektisch initiierte nachholende Modernisierung brauchte aber gar nichts mehr zu bewirken. Ehe die Reformen hätten greifen können, brach die DDR zusammen, und die westdeutschen Funktionäre verfügten wieder über richtige Weltmeister: Athletinnen wie Heike Drechsler, die den Weitsprung der neunziger Jahre bestimmte, Athletinnen wie Astrid Kumbernuss, die vergangene Woche auch in Athen Gold holte.

Mit dem DDR-Erbe war die 1987 ausgerufene westdeutsche Spitzensportkrise mit einem Schlag vorbei. Astrid Kumbernuss stieß erfolgreich die Kugel für Deutschland, nur: Keiner bemerkte es. Sabine Braun, im Siebenkampf immerhin die Nachfolgerin der legendären Jacky Joyner-Kersee, wurde Weltmeisterin, doch: Alles, was man über sie erfuhr, war, daß sie Probleme mit ihrem Speer hatte. Und Heinz Weis, 1988 bei den Olympischen Spielen noch Fünfter, schleuderte seinen Hammer letzte Woche in Athen auf Platz eins.

Weis kann man als Produkt westdeutscher Spitzensportförderung bezeichnen. Mit dem Charme des Finanzbeamten, der Grazie des Maurerpoliers und der Frisur der Freiwilligen Feuerwehr kann er es ohne Probleme mit Michael Johnson aufnehmen. Oder mit Merlene Ottey.