Terror & Tiramisú

Eine Bewegung möglicherweise

Interview mit dem Politikwissenschaftler Johannes Agnoli

Wie bewerten Sie die Rückkehr Toni Negris nach Italien?

Zunächst einmal: Daß Toni Negri zurück nach Italien gekommen ist, war eine sehr interessante Nachricht, mehr aber auch nicht. Die Gründe seiner Rückkehr kenne ich nicht, dazu müßte ich, der ich mit ihm befreundet bin, mit ihm persönlich sprechen. Ich nehme an, daß er teils gehofft hat, mit seiner Rückkehr den Prozeß zum Strafnachlaß für die Gefangenen aus den siebziger Jahren zu beschleunigen. Teils hat er gemerkt - aus den Erfahrungen der Verurteilten von Lotta continua, bei Sofri, Bompressi und Pietrostefani - daß es günstiger ist, in den Knast zu gehen, als im Exil zu bleiben. Vielleicht spielt auch persönliche Eitelkeit eine Rolle.

Das Problem liegt aber darin, daß gerade durch seine Rückkehr der Prozeß zum Strafnachlaß gebremst worden ist. Denn Toni Negri genießt nicht gerade große Sympathien in Italien.

Bei der radikalen Linken, die ihm zum Teil seine Aussagen vor der Staatsanwaltschaft übelnimmt?

Nein, nicht in erster Linie. Vor allem bei denjenigen, die sehr gerne für einen Strafnachlaß eintreten würden. Außerdem sind in letzter Zeit die Stimmen der sogenannten vittime, der Opfer, wieder lauter geworden, und immer mehr Politiker haben sich auf ihre Seite gestellt.

Hinzu kommt noch, daß irgendjemand - ich weiß nicht mehr genau, wer - auf die Idee gekommen ist, daß, wenn überhaupt ein Strafnachlaß gewährt werden soll, dann auch für die Korruptionsfälle. Dadurch ist die ganze Sache natürlich etwas durcheinandergeraten, denn für die Korruptionsfälle will man keinen Strafnachlaß.

Dieser Vorschlag kommt aus den Reihen der politischen Rechten.

Ja. Die Situation ist jetzt, wie so oft in Italien, sehr konfus. Das Land ist wie immer in zwei Teile gespalten, in diejenigen, die dafür, und diejenigen, die dagegen sind. Die Linke ist eher dazu geneigt, Strafnachlaß zu konzedieren. Der Aufruf kommt ja von Rifondazione comunista.

Gibt es auch schon Stimmen aus dem Regierungslager, die sich dafür ausgesprochen haben?

Nein, das ist eine Sache des Parlaments. Die Regierung hat dazu keine Stellung bezogen, nur ab und zu sagen einzelne, Prodi wie auch Napolitano oder der Staatspräsident, man müsse das eine oder das andere mitberücksichtigen. Erstens das Leiden der Opfer, zweitens die giustizia megliore (wörtlich: bessere Gerechtigkeit, wegen der harten Strafen durch die Sondergesetzgebung, Anm. d. Red.), ein ziemliches ideologisches Gespenst.

Justizminister Flick hat kürzlich angedeutet, daß unter Umständen mit einer Rückkehr zur sogenannten Normalität zu rechnen sei - bezogen auf die immer noch geltende Sondergesetzgebung aus den siebziger Jahren.

Das Problem besteht darin, daß durch die Sondergesetzgebung gerade Leute aus Autonom'a operaia usw. zu viel schärferen Strafen verurteilt wurden als normal. Was Flick betrifft: Er wäre wohl schon für einen Strafnachlaß. Aber, wie gesagt, die Sache ist noch im Fluß. Ein weiteres Problem ist dabei entstanden: Es ist zwar richtig, daß man auch die Stimme der Opfer hört. Man müßte dann aber auch bei den Prozessen die Opfer fragen, wie die Leute verurteilt werden sollen, und das steht doch ziemlich im Widerspruch zum normalen Strafverfahren. Wenn jetzt schon gesagt wird, die Opfer sind gegen einen Strafnachlaß, müßte man sie auch in den Strafprozeß eingliedern, und das geht ja nun mal nicht.

Welche Rolle spielt Negri in diesen Diskussionen? Durch Negris Rückkehr ist das Thema der politischen Gefangenen und der Exilierten doch erst richtig aufgegriffen worden.

Bezeichnend ist doch, daß in Deutschland ein Spiegel-Interview mit Negri erschienen ist, während es in Italien nichts dergleichen gibt. Offensichtlich wird in Deutschland mehr darüber gesprochen als in Italien.

Inwieweit ist die Forderung nach Strafnachlaß schon konkretisiert worden?

Die lebenslängliche Strafe soll abgeschafft bzw. auf 20 Jahre reduziert werden, alle anderen Strafen halbiert. Diejenigen, die nur wegen Beteiligung an oder Mitgliedschaft in einer subversiven Vereinigung verurteilt wurden, kämen frei, also die, die sich sozusagen strafrechtlich nichts zuschulden haben kommen lassen außer einem Organisationsdelikt. Bis jetzt ist aber, wie gesagt, noch nichts entschieden.

Zur Bewegung Ende der siebziger Jahre. Es gibt ein verbreitetes Interpretationsschema: In dieser Bewegung seien zwei Elemente vorherrschend gewesen, zum einen die traditionelle Arbeiterbewegung, zum anderen die neuen Subjekte, die der prekären Arbeit unterworfen sind. Was halten Sie davon?

Nun, das sind sehr tiefsinnige Argumente, die das ganze Problem durch den Tiefsinn einfach verflachen. Das ist nachträglich hineininterpretiert worden. In Wirklichkeit war die traditionelle Arbeiterbewegung immer gegen die andere Bewegung, die ihr zu radikal und zu experimentell war. Und innerhalb der neuen Arbeiterbewegung waren die Revoltierenden nicht etwa neue Klassenmitglieder, eine neue Klassenkomponente, sondern das war eine rebellische Jugend, die einfach nach vorne preschte. Diese nachträgliche Klassenanalyse halte ich für etwas fragwürdig.

Auch die Analysen von Negri und anderen autonomen Theoretikern basierten aber doch darauf.

Das ist ja alles gut und schön, aber Negri zeigt ja eine besondere Intelligenz darin, immer wieder neue revolutionäre Subjekte zu entdecken, wenn die alten auf seine Appelle nicht antworten. Ich kenne mich da ein bißchen aus, weil ich 1977 in Bologna war. Es ist zwar richtig zu versuchen, an diesem Punkt etwas theoretische Klarheit zu schaffen. Aber es ist keineswegs so, daß die Bewegung aus einer Analyse entstanden wäre, sondern die Analyse ist nachträglich hinzugekommen.

Welche Bedeutung hat die 77er-Bewegung denn Ihrer Ansicht nach für heute?

Für heute? Gibt es sowas denn heute noch? Für heute hat sie gar keine Bedeutung mehr. Heute muß man wieder von vorne anfangen, unter ganz anderen Bedingungen. Von einer Kontinuität kann keine Rede sein, das Ganze ist ja schon zwanzig Jahre her. Wahrscheinlich hat man in Berlin noch nicht gemerkt, daß die Mauer gefallen ist ...

... doch, doch, das ging nicht ganz spurlos an uns vorbei ...

... dadurch sind die alten Schemata ein wenig durcheinander geraten, sie müssen mühsam wieder hergestellt werden, und zwar neu auf der Höhe der Zeit.

In den siebziger Jahren gab es in Italien den Versuch eines historischen Kompromisses zwischen den Christdemokraten und den Kommunisten.

Die linke Bewegung damals war ja gegen den historischen Kompromiß.Im Grunde kam die Attacke gegen Autonom'a operaia - von Seiten des Staatsanwaltes Calogero - im wesentlichen von der alten KPI. Sie konnte es auf keinen Fall zulassen, daß links von ihr eine ernsthafte Bewegung entstand. Diese wurde dann einfach kriminalisiert.

In einem gewissen Sinn ist der historische Kompromiß ja nun erreicht worden - durch die die neue Mitte-Links-Regierung.

Ja, alles ist kompromittiert worden, insofern ist es erreicht. Der historische Kompromiß ist allerdings nicht zustande gekommen, denn der historische Kompromiß - um die Sache auf den Punkt zu bringen - sah eine Allianz zwischen Democrazia christiana und Partito comunista vor. Nun aber existieren weder DC noch KP mehr. Also ist auch hier das alte Schema des historischen Kompromisses inzwischen obsolet geworden. Was wir heute haben, ist eine Allianz zwischen den ehemaligen Kommunisten, die inzwischen vollständig in sozialdemokratisches Fahrwasser geraten sind, und dem volkstümlichen Flügel der DC, den Popolari, den linken Demo-Christen, wie wir sie nennen. Das heißt, das ist kein historischer Kompromiß, sondern eine völlig neue Form von Allianz.

Die Kontinuität besteht doch aber darin, daß aus beiden Lagern Personal für die Regierungsgeschäfte herangezogen wird.

Die Kontinuität besteht darin, daß die Leute, die damals tragend waren, auch die Veränderung herbeigeführt haben.

Das gilt übrigens auch für die Rechte. Dia Alleanza nacionale, die angeblich demokratische Rechte, das sind die Leute, die vor zwei Jahren noch für Mussolini schwärmten. Noch vor drei Jahren hieß es "Fini, Fini, du bist der neue Mussolini", und noch vor zwei Jahren sagte Fini, Mussolini sei der größte Staatsmann des Jahrhunderts. Jetzt aber sind die gleichen Leute ganz tapfer demokratisch geworden.

Die Parallele zu Deutschland springt doch ins Auge. Das Personal setzt sich auch hier aus den ehemals angeblich antagonistischen Lagern zusammen.

Das ist eine allgemeine Erscheinung, nicht nur in Deutschland und Italien. Die politische Klasse hat sich eben auf dem Kompromißweg zusammengefunden.

Was bedeutet das für Italien? In den siebziger Jahren haben Sie im Vergleich mit dem italienischen das deutsche System als moderner bezeichnet, in der Hinsicht, daß der Staat hier als gesellschaftlicher Gesamtorganisator auftritt und alle Bereiche der Gesellschaft regulierend erfaßt.

... Effizienter, moderner, der neuen Kapitalsituation adäquater ...

Kürzlich schrieb die FAZ, die neue Mitte-Links-Regierung könne den Leuten offensichtlich mehr zumuten bei der Kürzung sozialer Leistungen. Das läuft doch genau in die eben skizzierte Richtung.

Genau. Die Gewerkschaft befindet sich, genauso wie Rifondazione comunista, in einem Dilemma: Einerseits sind beide nicht einverstanden mit dem Abbau des Sozialstaats, andererseits stehen sie vor der Gefahr, daß, falls sie diese Regierung fallen lassen, die Rechte wieder an die Macht kommt, und dann wird es mit dem Abbau zweifellos noch schlimmer werden.

Andererseits entwickelt sich dann vielleicht eher die Möglichkeit der Entstehung einer antagonistischen Bewegung, wenn die Integrationskraft des politischen Sektors nachläßt?

Na ja, dein Wort in des Proletariates Ohr. Aber: So wie auf einem Kongreß in Halle von Klaus Offe gesagt wurde, es gebe keine Chance mehr für eine altenative Bewegung, so muß ich auch hier das sagen, was ich Klaus Offe geantwortet habe. Wenn wir 1989 etwas gelernt haben, dann das, daß wir nicht mehr in der Lage sind, irgendwelche Prognosen zu stellen. Zu sagen, es gebe keine Chancen für eine alternative Bewegung, ist genauso eine Hypothese, und nur eine Hypothese, wie das Gegenteil: Daß es Möglichkeiten für eine solche Bewegung gibt. Wer von dieser Hypothese ausgeht, und ich gehe davon aus, muß daran arbeiten.