Einhundert Prozent links

Zwischen Etatismus, Klassenkampf und individueller Emanzipation: Frankreichs radikale Linke brütet über neuen Strategien

Die veränderte innenpolitische Lage in Frankreich mit dem Regierungsantritt der rosa-rot-grünen Linkskoalition wirft auch für diejenigen radikal-linken Organisationen, die ihr nicht angehören und die tiefergreifende Veränderungen anstreben, als sie von Lionel Jospin (Sozialistische Partei) und Robert Hue (KPF) zu erwarten sind, neue Fragen über ihre Vorgehensweise und Strategie auf. Diese können sich entweder in der Form stellen, wie man Druck "von unten" ausüben kann, um so viel Veränderung wie irgend möglich herauszuholen, oder aber in der Weise, wie man es verhindern kann, in einen Strudel zunächst der Euphorie und bald der Enttäuschung und Frustration, der die gesamte Linke erfaßt, mit hineingerissen zu werden.

Links neben dem PCF existieren mehrere Organisationen mit revolutionär-marxistischem Anspruch, die - von anderen und sich selbst unter der Bezeichnung extrme gauche (radikale Linke) zusammengefaßt werden. Die drei wichtigsten Formationen erzielten im ersten Durchgang der Parlamentswahl Ende Mai zusammen 2,18 Prozent der Stimmen; allerdings waren sie jeweils nur in einem Teil der Wahlkreise angetreten. Alle drei haben übrigens gemeinsam, daß sie sich auf den Trotzkismus als theoretischer Grundlage beziehen, was jedoch in der Praxis zu völlig unterschiedlichen Strategien führt.

Die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), traditionell nach eigener Beschreibung "auf der Straße stärker als an den Wahlurnen" und in vielen Bewegungen (Antifaschismus, Immigrantensolidarität, Frauenbewegung...) stark verankert, hatte unter dem Listennamen "100 pour cent ˆ gauche" (100 Prozent links) in 130 von 577 Wahlkreisen Kandidaten aufgestellt. Die Ergebnisse lagen meist um ein Prozent, wobei das größte Handicap dieser Organisation wohl darin liegt, daß sie bei jedem Wahltermin unter einem anderen Listennamen antritt. 1993 etwa lautete das Motto "A gauche vraiment" (Wirklich nach links). Der langjährige LCR-Sprecher Alain Krivine erzielte in der nördlichen Pariser Vorstadt Saint-Denis (enttäuschende) 2,57 Prozent. Am Abend des ersten Wahlgangs rief Krivine im Radio dazu auf, alle progressiven Kräfte in der Stichwahl zugunsten der (inzwischen regierenden) Linkskoalition zu mobilisieren, um "die Rechte und die extreme Rechte zu schlagen".

Hingegen ist die Gruppierung LO (Lutte Ouvrière - Arbeiterkampf) stark auf einen extrem klassischen Proletariatsbegriff fixiert und räumt dem eigenen Aufau als disziplinierter revolutionärer Organisation Priorität ein. Aus politischen Bewegungen, die nicht in ihr traditionalistisches Raster vom Klassenkampf passen, hält die LO-Mehrheitsfraktion sich größtenteils heraus. Insbesondere der antifaschistische und antirassistische Kampf gilt der LO-Mehrheit als Ablenkung der Proletarier vom ökonomischen Klassenkampf. So denunzierte ihre Sprecherin Arlette Laguillier im Februar 1997, als sich eine breite Protestbewegung gegen die repressiven Ausländergesetze von Innenminister Debré sowie den Parteitag des rechtsextremen Front National (FN) in Strasbourg bildete, lautstark die "kleinbürgerlichen Intellektuellen, die vom wirklichen Leben der Arbeiterklasse, einschließlich der meisten eingewanderten Arbeiter, keine Ahnung haben" - die aber Urheber der Aufrufe zum "zivilen Ungehorsam" waren, welche damals den Stein ins Rollen brachten. Eine Minderheitsfraktion freilich sieht den antirassistischen Kampf als notwendigen Bestandteil des Klassenkampfs an. Und die Debatten um die rigiden Umgangsformen innerhalb der Organisation, insbesondere die strenge Kontrolle des Privat- und Unterdrückung des Intimlebens innerhalb von LO, führte im Frühjahr 1997 zur Abspaltung einer anderen Gruppe, die seitdem als "Voix des Travailleurs" (Stimme der Arbeiter) firmiert.

Die Linkskoalition aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und Linksliberalen lehnte LO im Vorfeld der Wahlen mit gleicher Schärfe ab wie das bürgerliche Regierungslager. Mit ihrer kleinen, aber disziplinierten Organisation weist LO eine effiziente Wahlmaschinerie auf, die ihrer Galionsfigur Arlette Laguillier 1995 bei der Präsidentenwahl stolze 5,3 Prozent (1,6 Millionen Stimmen) einbrachte. Dieses aufsehenerregende Ergebnis hat sich 1997 nicht wiederholt, die von LO aufgestellten Kandidaten erhielten meist um die drei Prozent der Stimmen. Arlette Laguillier selbst erzielte in der nordöstlichen Pariser Vorstadt Pantin immerhin 8,05 Prozent (1993 waren es noch 3,91 Prozent). Der Name von LO und vor allem von "Arlette" hat durch sein seit 25 Jahren regelmäßiges Auftreten bei Wahlen ein festes "Stammpublikum" auf sich ziehen können, das sowohl intellektuelle Schichten als auch ein relevantes Arbeiterpublikum umfaßt.

Der PT (Partie des Travailleurs, Partei der Arbeiter) schließlich trat in 131 Wahlkreisen an, die Ergebnisse liegen überall klar unter 0,5 Prozent. Diese Formation - für Kenner der trotzkistischen Szene: die "Lambertisten" - ist mit, laut Eigenangaben, 5 970 Mitgliedern (LCR: 2 000, LO: rund 1 500) die quantitativ stärkste Formation der extrme gauche und zugleich die am wenigsten öffentlich sichtbare unter ihnen. Der PT kontrolliert, ohne dabei als Organisation offen aufzutreten, bedeutende Teile des Apparats des drittgrößten französischen Gewerkschaftsbundes FO (Force Ouvrière), also jener mehrheitlich "unpolitisch"-antikommunistischen Gewerkschaft, die sich 1947 von der (durch die KP kontrollierten) CGT abspaltete.

Der PT hat sein gesamtes öffentliches Auftreten unter einen einzigen inhaltlichen Punkt gestellt: Die "Abschaffung des Maastrichter Vertrages". Daher rief er in Wahlkreisen ohne PT-Kandidaten zur Wahl jener KP-Bewerber auf, die nach seiner Ansicht konsequent gegen das Maastricht-Projekt auftreten, somit die Vertreter des "orthodoxen" Flügels wie Jean-Jacques Karman und der Ex-Abgeordnete Remy Auchode. Während letzterer ein klarer Neostalinist ist, bezeichnet Karman sich zugleich als Kritiker des Stalinismus von links und als Gegner der "reformistischen Aufweichung", die in der KP im Gange sei. Vielen Insidern und auch der gutinformierten Pariser Tageszeitung Le Monde gilt Karman freilich als "U-Boot" des PT in den Reihen des Parti Communiste. Karman und Remy Auchode sind Mitglieder eines vom PT initiierten und offen dominierten "Nationalen Komitees für die Abschaffung des Maastrichter Vertrags", welches am 31. Mai - einen Tag vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang zum Parlament - in Paris eine Demonstration mit immerhin rund 10 000 Teilnehmern durchführte. (Die Adressen des PT und des Komitees sind identisch.) In seinem Inneren weist0 der PT stärker noch als LO eine extrem "orthodoxe " Organisationsweise auf und lehnt etwa Homosexualität als "kleinbürgerliche Verirrung" ab.

Die LCR-Mehrheit (sie repräsentierte auf dem letzten Kongreß im November 1996 rund 67 Prozent der Mitglieder) analysiert seit längerem, daß ihre Erwartung bei Antritt der sozialistisch-kommunistischen Koalition 1981, wonach sich Teile der Basis der großen Linksparteien enttäuscht abwenden und in der Folge nach links radikalisieren würden, sich nicht erfüllt hat. Im Gegenteil ebnete die sich rasch breitmachende Ernüchterung in den Jahren 1983/84 dem Durchbruch der extremen Rechten den Weg. Die Mehrheit zog daraus den Schluß, daß man bei einer Sammlung der Linken heute mit dabei sein müsse - denn bleibe man am Anfang abseits stehen, so könne man nicht darauf hoffen, zu einem späteren Zeitpunkt auf von der Regierung enttäuschte Anhänger oder Mitglieder der Linksparteien Einfluß nehmen zu können. Die Organisation propagiert daher den Aufbau einheitlicher "Basiskomitees", denen Parteimitglieder aus der gesamten Linken ebenso wie Gewerkschafter, Angehörige sozialer Bewegungen und Unorganisierte angehören. Diese sollen eine Druck- und Kontrollfunktion gegenüber den Apparaten der Linksparteien ausüben.

Die etablierten Linksparteien lassen sich darauf natürlich nicht ein, was freilich für niemanden unerwartet kommt. Die Mehrheit formuliert ihr Selbstverständnis im Theorieorgan Critique communiste so: "Die LCR ruft dazu auf, eine Linke in Erscheinung treten zu lassen, die ihren Kampf entschieden innerhalb der (Gesamt-)Linken ansiedelt, sich jedoch weigert, sich den Zwängen der Regierung, der Verwaltung des Bestehenden, unterzuordnen." Die Wochenzeitung der Organisation Rouge verdeutlicht diese Orientierung, indem sie mit der Schlagzeile titelt: "Links regieren, es ist möglich!" - wie im Folgenden erklärt wird, indem man den "Kerker der Maastricht-Bestimmungen" verlasse. Druck versucht man insbesondere für die rasche Einführung der 35-Stunden-Woche auszuüben.

Für die beiden anderen Strömungen der Organisation schafft die LCR damit jedoch "Illusionen" hinsichtlich der regierenden etablierten Linken. Die "Mittel"-Strömung TUC (Tendenz Einigen und Aufbauen) sieht bei der Mehrheit das Bestreben, sich als "Berater der KP" aufzuführen, um dieser zu sagen, "was sie täte, wenn sie eine echte Partei der sozialen Transformation wäre". Sie schlägt dagegen vor, sich nicht auf eine ideelle Gesamtlinke zu orientieren, sondern auf eine künftige "Umgruppierung" der Linken: "Wenn bedeutende Strömungen innerhalb der regierenden Parteien (...), infolge von (gesellschaftlichen) Kämpfen, mit der Politik ihrer Parteifahrungen brechen", werde dies "die Möglichkeit zur Schaffung neuer Parteien" bieten. Darauf erwidert die Mehrheit, genau dies schaffe Illusionen, da die gegenüber den jeweiligen Parteiführungen dissident gewordenen Strömungen sich alle nicht weiter nach links entwickelt hätten, sondern beispielsweise in eine nationalistische Richtung - so die oppositionelle Strömung bei den Sozialisten, aus der l993 die "Bewegung der Citoyens" unter dem jetzigen Innenminister Chevènement wurde. Die "Tendenz R!" (R für Revolution) wiederum, die auf dem letzten Kongreß rund 16 Prozent repräsentierte, strebt die "Sammlung der revolutionären Strömungen" an. Dazu zählt insbesondere die Minderheitsfraktion von LO und die LO-Abspaltung Voix des Travailleurs, vor allem zu ersterer werden gute Beziehungen unterhalten. Diese Orientierung soll nicht dazu dienen, sich in die politische Isolation zu begeben, sondern "ein Katalysator für die Sammlung aller Avantgarde-Aktivisten" sein.

Die Organisation LO wiederum hat in ihrem Auftreten ihre Gleichgültigkeit gegenüber der nunmehr regierenden Linkskoalition beibehalten. So erklärt die gleichnamige (wöchentliche) Parteizeitung im Juli, nicht von der Linskregierung sei irgendeine Änderung zu erwarten, "sondern vom eigenen Kampf gegen die patrons" (Fabrikdirektoren).

Der PT hingegen hält an seiner Strategie fest, den Parti Communiste von seiner "orthodox"-konservativen Seite her anzubaggern, und zwar - so konstatiert Le Monde am 11. Juli - "auf der Grundlage des Etatismus", wozu noch die Verteidigung des Nationalstaats gegenüber Maastricht und der kapitalistischen Globalisierung zu ergänzen ist. Zwischen seiner Formation und der KP, so stellt PT-Sekretär Daniel Gluckstein fest, "ist die Berliner Mauer gefallen".

Beinahe selbstverständlich ist, daß die ohnehin antiparlamentarisch orientierten Anarchisten und libertären Linken ihre Orientierung gegenüber der neuen Regierung nicht aufgegeben haben. So stellt die anarchistische Wochenzeitung Le Monde libertaire fest, auch die Regierung Jospin habe "die Lohnsklaverei nicht abgeschafft" - sicher richtig, aber ein Allgemeinplatz. L'Alternative libertaire, die von einer kleinen libertär-kommunistischen Gruppe herausgegebene Monatszeitung, betont die Gegenüberstellung zwischen "der sozialen und Bewegungslinken eineseits und der Regierungslinken andererseits", wobei es erstere zu stärken gelte. Die Fédération Anarchiste (FA) teilt natürlich diese Grundorientierung, hat jedoch andere strategische Probleme - in ihrer internen Debatte ist umstritten, ob man sich zum Klassenkampf bekennen solle oder ob dieser der individuellen Emanzipation im Wege stehe.