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Anmerkungen zum "Schubert-Jahr". Beobachtungen an Franz Schuberts Musik.

Beginnen wir mit dem allerärgerlichsten Elaborat, das unsereins im Schubert-Jahr über sich ergehen lassen muß: Michael Stegemanns bereits 1996 erschienenes Buch "Ich bin zu Ende mit allen Träumen". Es handelt sich dabei um eine Art fiktives Tagebuch Schuberts, das die Grundlage für den in den Kulturprogrammen verschiedener Rundfunksender täglich ausgestrahlten "Schubert-Almanach" abgibt.

Musikwissenschaftliche Erwägungen über Schuberts Werke, Briefe und Gedichte von ihm, Aufzeichnungen seiner Freunde sowie diverse Artikel und Annoncen aus der damaligen österreichischen Presse verquirlt Stegemann zu einem inneren Monolog des Franz Schubert. "Das Bild Schuberts und seiner Musik, das hier entsteht, ist ein ganz anderes als das, das uns Klischees und Legenden überliefert", verkündet uns der Werbetext. Eine Art Gesellschaftsbiographie hatte Stegemann im Sinn, Leben und Werk Schuberts sollen also im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit erscheinen. Das ist eine löbliche Intention, und hätte Stegemann das ihm vorliegende Material zu einer sozialgeschichtlichen Studie ˆ la Kracauer verarbeitet, dann wäre vermutlich ein recht instruktives Buch herausgekommen.

Bei Stegemann hingegen ist das Verhältnis von Musik und Gesellschaft von vornherein in Schuberts Innenleben zurückgestaucht. Als entscheidender Schnittpunkt des Verhältnisses von Musik und Gesellschaft wird die empirische Person Schubert vorgeführt; seine Musik erscheint dabei als unmittelbarer Niederschlag vom Subjekt erfahrener gesellschaftlicher Vorkommnisse. Daß Schubert die sozialen Ereignisse seiner Zeit aufmerksam verfolgte, ist zwar richtig - nur erlöschen diese Erfahrungen und Intentionen im musikalischen Werk, das eben deshalb als Chiffre von Gesellschaft zu lesen ist. Stegemanns gegen die verklärenden Mythen vom autonomen Schöpfer gerichteter Versuch, Schubert zu historisieren, erweist sich als menschelnder Psychologismus, der durch den raunenden Tonfall und das penetrante "Weanern" noch unterstrichen wird.

Nach wie vor gilt also, was bereits in einem früheren "Schubert-Jahr", 1978, Eckhard Henscheid festzustellen sich gezwungen sah: daß die Bemühungen, Schubert "vor Verkitschung, Unverständnis und Verfälschung retten" zu wollen, ihn "ärger verkasperlt als aller bekannter schubert-geschichtlicher 'Schwammerl'-, 'Götterliebling'- und 'Dreimäderlhaus'-Dumpfsinn es vermöchte und vermochte; da war wenigstens noch eine Spur Wahrheit dran. Und trotz derlei Katastrophen ist Schuberts Singularität, sein oberster Rang seit 150 Jahren auch keineswegs Geheimnis mehr."

Ausgenommen, so möchte man hinzufügen, Schuberts Klaviersonaten, seine frühen Sinfonien sowie die Opern. Was letztere anbetrifft, so zählt zum Bemerkenswertesten die - mittlerweile leider wieder aus dem Spielplan genommene - Produktion des "Grafen von Gleichen" am Staatstheater Meiningen. Es handelt sich dabei um Schuberts letzte Oper, deren Handlung auf einer authentischen Begebenheit beruht: Der bei einem Kreuzzug gefangengenommene Graf von Gleichen wird von der Tochter des Sultans, die sich in ihn verliebt hat, befreit - unter der Bedingung, daß er sie zur Frau nehmen solle. Der Graf, der zu Hause Gattin und Kinder hinterlassen hat, hofft die Einwilligung seiner Gemahlin und des Papstes zur Doppelehe zu bekommen - und erhält sie. Obwohl die Zensurbehörden das sprachlich schauderhafte Libretto verboten hatten, machte sich Schubert 1827/28 an die Komposition der Oper; er hinterließ eine bis auf wenige Stellen komplette Skizze, die der Meininger Generalmusikdirektor Wolfgang Hocke kundig ergänzte und instrumentierte. Erwähnenswert ferner die durchweg gelungene Produktion des frühen Singspiels "Die Freunde von Salamanka" (1815) an der Neuköllner Oper, von der zu hoffen ist, daß sie in der kommenden Spielzeit wiederaufgenommmen wird.

Was Schuberts Instrumentalmusik anbelangt, insbesondere die Klaviersonaten und die frühen Sinfonien, so wurden sie, gemessen am Beethovenschen Verfahren motivisch-thematischer Arbeit, lange Zeit als defizitär, formlos und mißglückt angesehen. Auffällig an den diesjährigen Schubert-Würdigungen ist nun, daß die Erkenntnis von Schuberts eigenständiger und andersgearteter Kompositionsweise um ihre dialektische Pointe gebracht wird: Schuberts "strömende Klangrede" wird als Gegenprinzip zu Beethoven aufgebaut, in der erklärten Absicht, dadurch der innig gehaßten musikalischen Avantgarde, deren "Konstruktivismus" nicht zu Unrecht, aber falsch, mit Beethoven in Verbindung gebracht wird, wieder einmal das Totenglöckchen läuten zu können (am deutlichsten wird hier Hans-Klaus Jungheinrich in seinem Schubert-Aufsatz in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1997).

Eine solche interessierte Apologie, die Schubert nachträglich in die postmodernen Räucherstäbchenkammern einweist, hat dieser jedoch noch weniger verdient als seine Plazierung im "Dreimäderlhaus". Bei Beethoven ist die ästhetische Subjektivität, wie in der Hegelschen Philosophie, bestimmt als die totale Vermittlung. Indem das kompositorische Einzelne - Themen, Motive - sich fortwährend zum Ganzen der Musik hin entäußert, immer erst zu dem wird, was es ist und deshalb nur vom Gesichtspunkt der Totale aus Prägnanz und Plastizität gewinnt, ist es gerade durch die scheinbar lückenlos gefügte Totalität zwar vor Verdinglichung behütet - andererseits ist es die Vorherrschaft der Totale, die das Einzelne nur als verschwindendes Moment gelten läßt.

Beethovens Themen tendieren zum Unartikulierten und Amorphen, aus dem Beethoven durch Motivspaltung und

-verkürzung den Formverlauf gewinnt. Bei Schubert hingegen erhebt das Einzelne selber Anspruch auf Artikuliertheit: seine Themen sind in aller Regel in sich geschlossene Liedsätze, die durchaus für sich bestehen können. Allerdings geht Schubert dabei nicht einfach, wie immer wieder behauptet wird, hinter Beethoven auf Mozart zurück: die Freigabe des Einzelnen knüpft durchaus an solche "gesanglichen" Figuren an, wie man sie beim mittleren Beethoven, etwa in der Fis-Dur-Klaviersonate, der Cello-Sonate op. 69 oder dem "Erzherzog"-Trio findet: insbesondere im letzteren ist ein "Schubertscher" Tonfall unüberhörbar.

Freilich kommt bei Schubert ein anderer entscheidender Gesichtspunkt hinzu: bei ihm büßt die Harmonik ihre formbildende Kraft ein. Die enorme Dynamik der Sonatensatzform, wie Beethoven sie ausgebildet hat, ist an den Grad harmonischer Stabilität oder Abweichung in den einzelnen Formteilen gebunden: in der Exposition, wo die Themen präsentiert werden, verläuft die Modulation (d. i. der Wechsel der Tonart) zielgerichtet, erst in der Durchführung, wo das Ausgangsmaterial durchgreifend verarbeitet wird, kommen auch Abschweifungen in entfernte Tonarten, überraschende harmonische Kontraste zum Tragen. Bei Schubert hingegen wird das Modulieren allgegenwärtig: dies droht die Sonatenform zu sprengen und die Tonalität selber aufzuweichen. Kein Wunder daher, daß Schuberts erstes vollendetes Werk eine Fantasie für Klavier zu vier Händen ist, die bemerkenswerterweise keine tonale Einheit aufweist (sie beginnt in G-Dur und endet in C-Dur). Gänzlich ungeschieden sind hier Unbeholfenheit und genialisches Experimentieren; Schuberts Leistung ist, daß er aus dem Formsprengenden selber sein Formgesetz gewann. Schubert gewinnt der Harmonik ungeahnte perspektivische, "räumliche" Wirkungen ab, das allgegenwärtige Modulieren beschreibt keinen Weg "per aspera ad astra", sondern erweckt den Eindruck des "Wanderns", des Durchschreitens von Landschaften.

Die Technik wechselnder Belichtung vorausgesetzer und weithin unangetasteter Themen, die Schuberts Musik von Beethoven unterscheidet, rückt ihn, wenn man die kompositionstechnischen Fragen als gesellschaftliche dechiffriert, wiederum in dessen Nähe. Noch die schroffsten Passagen und gewaltigsten Höhepunkte sind bei Beethoven durch die Präponderanz der musikalischen Totale vermittelt, als vermittelte aber stets vorbereitet und insofern gebändigt. An die Stelle von Steigerung und Abklingen treten bei Schubert die jähen, unvermittelten Kontraste; man trifft in seiner Musik auf so atemberaubende Ausbrüche wie im langsamen Satz der späten A-Dur-Klaviersonate, wo ein traurig-depressives Monologisieren plötzlich in schneidend dissonante Klangeruptionen umschlägt, auf so harte Abbrüche wie im 2. Satz der 9. Sinfonie, wo das Orchester nach einem katastrophischen Aufschrei einen Takt lang verstummt und die Musik, noch ganz im Bann des Unerhörten nachzitternd, erst allmächlich wieder Tritt faßt sowie auf das Phänomen des "Erstickens" wie im Quartettsatz c-moll, wo am Ende die düstere, schwirrende Anfangssequenz die entschwebende Gesangsmelodie förmlich abwürgt.

Die jähen Kontraste dieser und anderer Passagen antizipieren wesentliche Prinzipien der Kompositionstechnik von Gustav Mahler. Was sich mit Schuberts Themen ereignet, das widerfährt ihnen: die Technik harmonischer "Beleuchtung" macht den Einbezug des Einzelnen in die Totale der Form als Überwältigung und Gewalttat sichtbar. Die bei Beethoven behauptete Versöhntheit von Allgemeinem und Besonderen bekennt in Schuberts Musik ihre Unwahrheit ein; die Risse und Brüche der ästhetischen Subjektivität sprechen das urteilslose Urteil über die reale.

Wo, wie bei Schubert, ästhetische Naturbeherrschung nicht mehr ungebrochen behauptet wird, entsteht andererseits eine Musik, in der die einzelnen Charaktere frei zum Formganzen zusammentreten, anstatt unter es subordiniert zu werden. Es gelingt der musikalische Vorschein von Glück. Wenn am Ende des Finales der erwähnten C-Dur-Sinfonie das zweite Thema, reduziert auf den Ton "C", ungebärdig aufstampft, um stets sogleich in aufjauchzenden Harmonien auszubrechen, dann meint dieser Freudentaumel wirklich alle Menschen - anders als die von Beethoven vertonte Schiller-Ode, die den Vereinsamten nicht dazu auffordert, sich weinend davonzustehlen. Dort, wo Schubert sich kompositorisch am weitesten von Beethoven entfernt, ist er ihm zugleich am nächsten.