Solidarität mit Nzwami und Mwali

Irgendwas war schiefgelaufen. Als vor ein paar Jahren der Hegelsche Weltgeist zu Grabe getragen wurde, versicherten sich die Hinterbliebenen erleichtert, sie seien nun nicht nur noch einmal "davongekommen", sondern endgültig am "Ende der Geschichte" angelangt. Bei der Inventarisierung des Nachlasses war eine idiotische Nachlässigkeit passiert. Man hatte versäumt, eines der Werkzeuge, auf deren virtuose Handhabung sich der Ruhm des Verstorbenen gründete, den Archiven zu überantworten. Fortan galt es als verschollen. Seine Bezeichnung: "List der Vernunft". Seit kurzem gibt es Grund zu der Annahme, dieses Werkzeug führe nach dem Tod des Meisters eine eigenständige Existenz. Derzeitiger Aufenthaltsort: Die Meerenge zwischen Madagaskar und Afrika.

Dort liegt die "Islamische Bundesrepublik der Komoren". Anders als einer uns nur zu gut bekannten Bundesrepublik gelang es der Komorischen bis heute nicht, ihre "nationale Frage" erfolgreich zu beantworten. Als der Inselstaat Mitte der siebziger Jahre das trübe Licht der staatlichen Unabhängigkeit erblickte, hatte sich die Bevölkerung der südöstlichsten der vier Komoren qua Abstimmung zum Verbleib bei der früheren französischen Kolonialmacht entschieden. Die Bewohner der Insel Mayotte zeigten sich nicht nur uninteressiert an der identitären Umbenennung ihres Eilands - die anderen Komoren heißen inzwischen Njadzidja, Mwali und Nzwami - und am islamischen Recht, vor allem mißtrauten sie dem immer schon hohlklingenden Pathos des Befreiungsnationalismus. Offenbar hielten sie die bescheidenen Zuwendungen eines westeuropäischen "Sozialstaats" für erstrebenswerter als die Versprechungen autochthoner Glorie. Just zum Zeitpunkt der Abschaffung des westeuropäischen Sozialstaates erkennen nun die Bewohner zweier Nachbarinseln ihren historischen Irrtum.

Konnte sich die Komoren-Republik während der Ost-West-Konfrontation noch des Wohlwollens und verschiedener Zuwendungen der "Grande Nation" erfreuen, sah sie sich ab Beginn der neunziger Jahre mit der ungeschminkten Realität der "Neuen Weltordnung" konfrontiert. Als dem fortschrittsoptimistischen Befreiungsnationalismus durch das Ende der alternativen Modernisierung im Realsoz der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, fand die komorische Elite das nationale Heil in der verschärften Anwendung der islamischen Scharia. Als dann noch die Verantwortung des südafrikanischen Apartheid-Regimes in die Hände des ANC gelegt wurde, war dies für das westliche Kapital Grund genug, den embargobedingten Warenumschlagplatz Komoren ein für allemal zu vergessen. Heute gehört die "Islamische Bundesrepublik" zu den ärmsten Staaten der Welt. Kein Wunder, daß ab Beginn der neunziger Jahre die Massenauswanderung ins französische Mayotte einsetzte, kein Wunder auch, daß dort schon 1992 restriktive Einwanderungs-Bestimmungen erlassen wurden.

Am 5. August sagte sich Nzwami von der "Islamischen Bundesrepublik" los, eine Woche später schloß sich die Nachbarinsel Mwali an. Vorausgegangen waren seit Monaten anhaltende pro-französische Massendemonstrationen und Unruhen, die durch das Eingreifen der Staatsorgane bisher mindestens vier Todesopfer forderten. Vom Befreiungsnationalismus will dort niemand mehr etwas wissen. Schon eher ist man der Ansicht des mayottischen Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung: "Wir waren französisch vor Nizza und Savoyen." Und das begründet bis jetzt noch den Anspruch auf einen Teil des Reichtums der universellen Marktordnung, zumindest auf die Brosamen einer Sozialhilfe. Diese Ansicht wird von der französischen Regierung selbstverständlich nicht geteilt. In antikolonialistischer Manier besteht sie auf der "territorialen Integrität" ihrer einstigen Kolonie.

Die europäischen Linken allerdings wären gut beraten, wenn sie das Angebot der "List der Vernunft" annähmen und Solidarität mit Nzwami und Mwali einforderten. Denn dort wird erstmals aus dem Scheitern des Befreiungsnationalismus nicht die Flucht in den völkischen Fanatismus angetreten, sondern "Metropolen-Standard" eingefordert. Der Anspruch, als vom Weltmarkt Abgekoppelte dennoch an dessen ganzen Reichtum teilhaben zu wollen, stellt potentiell die Grenzen der ganzen Veranstaltung in Frage. Wenn das Beispiel der Komoren Schule machte und sich die Armen der Welt darauf besännen, wo die Konditionen von Reichtumsproduktion und -verteilung definitiv ausgehandelt werden, erwüchse den Feinden des Kapitalismus ein zumindest quantitativ bedeutsames Unterstützungspotential. Es stiegen die Chancen, diese Konditionen gegen den Widerstand von Kapital, Staat und Staatsbürgern über den Haufen zu werfen. Die von den Zapatisten ausgegebene politizistische Phrase "Alles für alle" könnte dann gegen die Intention ihrer Urheber noch einen emanzipativen Sinn bekommen.