Die Geschäfte des Julius Kaiser

Mit einer Mammutklage hat in New York der Prozeß gegen 16 europäische Versicherungsgesellschaften begonnen. Sie sollen sich am Vermögen von NS-Verfolgten bereichert haben

Fritz J. E. ist heute 84 Jahre alt und lebt in Pittsburgh, Pennsylvania. Geboren wurde er in Bamberg. Sein Vater hatte sowohl bei der Allianz in Stuttgart als auch bei einer Züricher Gesellschaft eine Lebensversicherung abgeschlossen und wurde 1938 ins KZ Dachau deportiert. Er wurde später in Auschwitz ermordet, die Mutter von Herrn E. ebenfalls. Der überlebende Sohn hat die ihm zustehenden Beträge aus den Policen nie erhalten. Margret Z., 75, wohnt heute im Staat New York. Ihr Vater hatte für sie eine Aussteuerversicherung bei der Allianz abgeschlossen. Sie wurde im Dezember 1941 mit ihrer Familie nach Theresienstadt deportiert, drei Jahre später nach Auschwitz und in ein Nebenlager von Groß-Rosen. Nach Kriegsende weigerte sich der Versicherungskonzern, die Police auszuzahlen, da diese nicht mehr existent sei. Siegfried H. aus Manhattan ist Emigrantenkind aus Europa. Die Familie floh vor den Nazis. Auch er hat nie eine Zahlung für die von seinem Vater - u.a. bei der Allianz - abgeschlossenen Policen erhalten.

Die heute betagten Leute gehören zu den 29 namentlichen Klägern mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft, die kürzlich einen Musterprozeß gegen beinahe sämtliche Multis im Versicherungsgewerbe angestrengt haben. Die Sammelklage wird - was den Streiwert betrifft - zum größten "Entschädigungsprozeß" ehemaliger NS-Verfolgter, der je stattgefunden hat. Neun Rechtsanwaltsbüros aus verschiedenen Staaten der USA und eines aus München haben die 50seitige Klageschrift gemeinsam erarbeitet und vertreten mittlerweile insgesamt 15 000 bis 20 000 Geschädigte oder deren Erben aus USA, Israel, Italien, Frankreich, aber auch Polen, Ungarn, der ehemaligen Tschechoslowakei und Sowjetunion und vielen anderen Ländern. Nach US-Recht muß nicht jeder dieser Einzelfälle verhandelt werden. Das Ergebnis des Gruppen-Verfahrens, das am 20. August eröffnet wurde, gilt in der Folge für alle Geschädigten. Voraussetzung ist, daß der Versicherungskonzern in den USA verurteilt werden kann und wird. Das geht nur, wenn die beklagte Assekuranz auch in den USA Geschäfte macht.

Ins Rollen kam die Lawine gut 50 Jahre nach dem Holocaust, weil eine Geschädigte sich an den New Yorker Anwalt Edward Fagan wandte, den sie im Fernsehen als Vertreter der vom Schweizer Bankenskandal betroffenen NS-Opfer gesehen hatte. Noch Anfang Mai des Jahres hielt Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle - sein Trust gehört zu den Hauptangeklagten - die Forderungen für überzogen und juristisch fragwürdig. Der "Manager des Jahres 1996" sorgte aber dafür, daß eine doppelgleisige Politik gefahren wird, was dafür spricht, daß man bei der Allianz zumindest keine komplette Niederlage der Kläger erwartet. Man sei auch außergerichtlich im Gespräch, sagte er im Sommer 1997 dem Spiegel. Rechtsanwalt Michael Witti aus München, der zu den Klagevertretern zählt, ist nach Eröffnung des Verfahrens optimistisch: "Es passiert was, weltweit."

Das Geschehen findet nicht nur vor Gericht statt - Kläger und Beklagte haben sich im Vorfeld des Prozesses zu Verhandlungen getroffen. Immer mehr Geschädigte, so Witti gegenüber Jungle World, melden sich erst jetzt, weil sie durch die Presse von der Klage erfahren. Gefordert werden für jeden Betroffenen oder dessen Erben pauschal 75 000 US-Dollar. Dazu kommen die Zinsen und die Kosten des Verfahrens. Zusammen einen Streitwert von mindestens einer Milliarde US-Dollar - eine Summe, die auch für Versicherungskonzerne mehr ist als Peanuts. Die Liste der Beklagten liest sich wie ein Who-is-who des modernen Versicherungswesens: Neben Unternehmen aus Italien (Generali), Frankreich (Union), Österreich (Phönix), Schweiz (Winterthur) finden sich vor allem deutsche Konzerne: Allianz, Vereinte, Deutscher Ring, Magdeburger, Mannheimer, Nordstern und Victoria.

Die Klage wird sehr ernst genommen. Schon in ihrem Vorfeld sorgte sie für hektische Aktivitäten in den Chefetagen der Beklagten, die mit allerlei Offensivstrategien versuchen, eine Schadensbegrenzung zumindest auf der Ebene des guten Rufs vorzunehmen. Versicherungen leben davon, daß man ihnen mehr vertraut als der staatlichen Rentenkasse oder dem Sparstrumpf, und es macht ein schlechtes Bild, wenn von "Veruntreuung" oder gar "Betrug" die Rede ist - und zumindest im Ausland sind auch deutsche Nazi-Profiteure nicht gern gesehen. In einer besonders prekären Lage befindet sich ausgerechnet die Allianz als größter deutscher Versicherungskonzern. Der frühere Allianz-Vorstandsvorsitzende Kurt Schmitt war nicht nur NSDAP- und SS-Mitglied, sondern zwischen 1933 und 1935 Reichswirtschaftsminister der NS-Regierung. Das Geschäft lief glänzend, denn die Allianz war auch schon damals mächtig und wichtigster Versicherer im Land. Sowohl für Opfer als auch für Täter. In der Klageschrift ist davon die Rede: Man habe die Verfolgten des NS-Regimes mit speziellen Angeboten beworben und ihnen eine Sicherheitsinvestition für nach dem Krieg versprochen. Gleichzeitig war die Allianz-Assekuranz größter Versicherer der Nazi-Behörden einschließlich der SS. Kaum ein KZ, Auschwitz eingeschlossen, dessen SS-Baracken nicht Allianz-versichert waren. Die SS-Policen wurden im Februar 1945 gekündigt. Die überlebenden NS-Opfer erhielten in der Regel nichts aus den Policen, deren Gegenwert bei einem Großteil der jüdischen Versicherungsnehmer in das Vermögen des Nazi-Staates übereignet worden war.

"Die Motoren der Allianz-Gruppe schnurren mittlerweile prächtig", befand Vorstandsvorsitzender Schulte-Noelle auf der Bilanzpressekonferenz Ende Mai 1997. Die Aktien (Nennwert fünf Mark) waren von 8,72 Mark (1995) auf 9,25 Mark (1996) gestiegen, der Jahresüberschuß um 10,7 Prozent auf 2,021 Milliarden Mark. Die Hälfte davon kam aus dem Auslandsgeschäft. Zukunftsaussichten sah man in den "Wachstumsmärkten" Mittel- und Osteuropas sowie in Asien. Die Allianz wird in Wirtschaftskreisen "Deutschland AG" genannt. Grund: Sie ist an fast allen Banken beteiligt (Dresdner, Deutsche, Hypo und andere) aber auch an Bayer, BASF, Beiersdorf, Schering, Thyssen, Siemens und Daimler-Benz). Selbstredend gehören ihr allerlei Versicherungstöchter: neben anderen ist die Allianz mit 90 Prozent an der Hermes-Kreditversicherung beteiligt, über die die BRD bevorzugt ihre Auslandsgeschäfte abwickelt.

Von der US-Sammelklage sei man überrascht worden, behauptete Schulte-Noelle noch im Juli. Er räumte ein, daß die Glaubwürdigkeit des Unternehmens auf dem Prüfstand stehe. Sein Unternehmen werde alles tun, "um Klarheit über unsere eigene Geschichte zu bekommen und uns zu ihr zu bekennen". Dafür ist jetzt Gelegenheit. Die Klagepunkte lauten auf Bruch von Versicherungsverträgen, Schuldleistungen nicht erfüllt zu haben, Verletzung der Informationspflicht, Zweckentfremdung der Beiträge, Handeln in böser Absicht und unrechtmäßige Bereicherung. Die nächste Verhandlung findet Ende September statt, im Oktober und November sind weitere Prozeßtermine angesetzt. Bis zu einem Urteil können drei Jahre verstreichen.