Der Kolporteur

Hellmuth Karasek ist an allem schuld. Eigentlich wollte ich heute über die Männer vom Berliner Paul-Lincke-Ufer berichten, die dort sitzen und saufen und die, wenn die Kreuzberger Ökoschickeria am Kanal promeniert, hin und wieder giftige Kommentare abgeben, eigentlich wollte ich heute noch nichts zur Funkausstellung schreiben, denn die Männer vom Lincke-Ufer haben es verdient, daß man sie erwähnt und damit einmal beschreibt, wie manch ein arbeitsloser älterer Marxist heute die Zeit verbringt, ja, stets hört man das einschlägige Vokabular aus dem Munde der Lincke-Ufer-Männer; man glaubt es kaum, daß einer, der wie ein Clochard aussieht und ein Clochard ist, von den "Scheiß-Produktionsverhältnissen" nuschelt.

Eigentlich wollte ich hier die These aufstellen, daß die Kreuzberger Altlinken deshalb reihenweise Familien gründen, weil die Männer am Lincke-Ufer ein wirklich bedrückendes Beispiel in Sachen Lebensplanung abgeben, eigentlich wollte ich von Malte erzählen, der einst Kapitalschulungen leitete und heute am Kanal seine Existenz dem Alkohol überantwortet, bis er irgendwann ins Wasser plumpst. Eigentlich.

Doch Hellmuth Karasek hat anläßlich der IFA im Tagesspiegel unter dem Titel "Der Schein bestimmt das Bewußtsein" über die Zukunft von Technik und Mensch räsoniert, und die Männer vom Lincke-Ufer werden es mir gewiß verzeihen, daß ich zu dieser Marxmatsche etwas loswerden will. "Wir sind längst in einer zweiten virtuellen Welt ebenso zu Hause wie in der realen Welt", behauptet Karasek, der von sich immer auf andere schließt; ich jedenfalls lebe nicht in einem Computer, was keineswegs daran liegt, daß mein Rechner noch aus einem anderen Jahrzehnt stammt. "Gewaltige Investitionen, gewaltige Konzentrationen" beklagt Karasek, als wisse er, worum es im Monopolkapitalismus geht.

Die Marxisten am Lincke-Ufer sind permanent besoffen, gerne würden sie in die Virtualität hüpfen, wenn's denn funktionierte, der Mann vom Tagesspiegel indes braucht keinen Fusel, um die Schwelle des Deliriums zu überschreiten: "Wir werden, wenn wir die Schwelle der Vernetzung überschreiten, darauf zu achten haben, daß uns diese konzentrierte Gewalt aus der Flut der Bilder und der wirtschaftlichen Interessen nicht erst isoliert und dann erdrückt." Warum vor der Bilderflut gewarnt wird, solange man den Flimmerkasten abstellen kann, verstehe ich nicht. Warum ein Fernsehlaberer wie Karasek sich über die Fernsehgewalt mokiert, weiß ich auch nicht. Warum einer, der bei allem mitmacht, was der Betrieb abverlangt, sich plätzlich kapitalkritisch gibt, verstehe ich sowieso nicht.

Zumindest den Ökonomiekram hätte Karasek wie bislang den linken Männern überlassen sollen, die haben nicht nur dies Zeug studiert, die verstehen auch mehr von Isolation und Erdrückung. Denn nur wer davon gar keine Ahnung hat, wagt zu erklären, es reiche aus, "Achtung!" zu brüllen, und schon beschränke sich die "konzentrierte Gewalt der wirtschaftlichen Interessen" auf ein Minimum der Zerstörung. Nie wird Karasek etwas dazulernen, zu den Männern vom Lincke-Ufer wird er niemals gehen müssen, insofern stimmt der dämliche Satz, der Schein bestimmt das Bewußtsein, sein Denkapparat wird nicht von Realem gespeist, Karasek erhält seine Informationen aus einer anderen Sphäre - und ein geheimnisvoller Text über die Funkausstellung entsteht.