Berlin will New York sein

Die großen Hauptstadt-Zeitungen wollen Weltniveau erreichen, schaffen es aber nicht. Eine setzt sogar Hubschrauber ein, um hochzukommen

Frau Motzki aus Marzahn weiß nun, was ein Relaunch ist. Sie hat die Berliner Zeitung im Abo. Die Werbung ("Berlin ist reif für neue Zeiten!") hat ihr gefallen, und auch das neue Layout macht ihr Freude. Herr Groll aus dem Grunewald wußte vorher schon, was ein Relaunch ist. Bis vor kurzem las er den Tagesspiegel ("... löscht nachhaltig den Wissensdurst"). Auch Herr Groll erhält jetzt die Berliner Zeitung zum Frühstück. Das neue Feuilleton ("Mehr Hochkultur!") und die kompromißlose Lokalberichterstattung ("Mehr Berlinkompetenz!") haben den Oberstudienrat überzeugt.

Frau Motzki und Herrn Groll gibt es nicht. Andreas Albath, Geschäftsführer des Berliner Verlages, setzt dennoch auf sie: "Wir wollen eine Hauptstadtzeitung werden", sagt er, und das geht nur, wenn im Westen, wo die Ullstein-Titel Berliner Morgenpost und B.Z. das Zeitungsgeschehen dominieren, Leser gewonnen werden und wenn im Osten die eigene Position gehalten wird. Die Berliner Zeitung verkauft im Westteil der Stadt zwischen 30 000 und 35 000, insgesamt immerhin 216 902 Exemplare. Das Klientel der Provo-Presse kann nicht übernommen werden. Die Abnehmer des Westberliner Tagesspiegel, der trotz Holtzbrinckscher Unterstützung keine schwarzen Zahlen schreibt, aber auch die Freunde der liberal-alternativen taz gehören damit zur potentiellen Kundschaft.

Ein schwieriges Geschäft: Die einen sind ihrer Gazette treu geblieben, obwohl ein Mitglied der Chefredaktion (Monika Zimmermann) alles tat, um das Niveau zu senken, und die anderen gründen zur Not eine Bürgerinitiative oder organisieren einen Solibasar zur Rettung ihres Organs. Im übrigen wird die taz bald zurückschlagen, und zwar mit einem Wochenendmagazin und mit einem überarbeiteten Seitenkonzept. Wenn's die Basisdemokratie zuläßt, vielleicht sogar mit einer veränderten Titelgestaltung. Die Berliner Zeitung muß wohl auf die Massen setzen, die im Laufe des Regierungsumzuges nach Berlin kommen werden. Wer an kein Blatt gebunden ist, läßt sich leichter überzeugen. Das sagen jedenfalls die Markforscher. Können die Berliner solange warten, bis die Bonner kommen? Planziel für die Westauflage sind 100 000 Stück. Ob das klappt? Wer eifrig neue Kunden umwirbt, läuft bekanntermaßen Gefahr, die alten zu verlieren. Die Schlüsselfrage lautet daher: Werden die Ossis die umgestaltete Berliner Zeitung akzeptieren? Man weiß nicht, was der Zoni denkt. Noch weniger weiß man, was er fühlt, wenn seine Hauspostille nicht mehr so aussieht, wie er sie gewohnt ist. Daß er sich umstellen muß, weiß jeder, der das vorläufige Endprodukt einmal in den Händen gehalten hat.

Rund 35 Millionen Mark hat Gruner+ Jahr seit anderthalb Jahren in personelle Ausstattung, Umfangserweiterung, Marketingmaßnahmen, technische Infrastruktur und der Entwicklung eines neuen Erscheinungsbildes gesteckt. Seit dem 2. September ist sie auf dem Markt: die Berliner Zeitung, die auch in Hamburg und München gelesen werden soll.

Daß die Optik besser geworden sei, hat man häufig gehört. Mit dem Komparativ macht der Kritiker nichts falsch. Die schwarzen Blöcke und die blauen Balken degradierten die alte Berliner Zeitung bislang zum langweiligen Lokalblättchen; es konnte also nur besser werden. Das hellere Blau des Titelkopfes, das Orientrot für die Kustoden und "interessanten Artikel", der "Walbaum"-Schrifttyp der Überschriften und die "Utopia" für den Grundtext verdrängen tatsächlich das Provinzielle. Elegant ist die Berliner aber immer noch nicht. Denn es wird mit dem Design geprotzt. Mindestens sechs verschiedene Schriftschnitte muß der Leser ertragen, um auf die erste Zeile eines Artikels zu stoßen. Das sogenannte Layering, das Einfügen von kleinen Info-Kästen, verstärkt die neue Unübersichtlichkeit auf dem kleinen Rheinischen Format.

Früher sei alles noch wirrer gewesen, beschwichtigen die Fachleute. Doch dies ist ein Irrtum. Die Stammleser haben sich in der organisierten Biederkeit sehr wohl zurechtgefunden. Jetzt erinnern nur noch die Anzeigen von einem Hersteller häßlicher Sofas oder die von einer Berliner Wurstfabrik an die alte Zeitung. Vielleicht ist das der Grund, warum die Werbung, die in dem schicken Gewande genauso grotesk wirkt wie die mondäne Aufmachung mit dem plumpen Beiwerk, nicht aus der Zeitung verschwindet: Irgendwie müssen die Leser aus dem Osten ja ans Blatt gebunden werden. Das Zeitungsteam von der Karl-Liebknecht-Straße sollte dafür gelobt werden, daß es die klassischen Regeln der Kundenorientierung mißachtet.

"Das neue Layout hilft der Redaktion, Nachrichten zu erklären", doziert der Designer Robert Lockwood, der, bevor er sich an die Berliner Zeitung wagte, unter anderem American Banker, Bangkok Post, Daily News oder Il Tempo bearbeitete. Nicht alle Redakteure freuen sich über die Hilfestellung. Zu jedem Beitrag muß plötzlich eine Sammlung zusätzlicher Daten, Grafiken und anderer Übersichten angeboten werden. Auch wenn der Kram keinen Sinn macht. Was beim Focus und bei der Woche schon nervte, wird auch in der Berliner Zeitung auf den Geist gehen.

Birgit Walter, die sich um den Pop kümmert, möchte manchmal auf den vermeintlich poppigen Informationsblock auch verzichten dürfen. Ansonsten ist die Kulturabteilung recht zufrieden. Unter Georgia Tornow hatte man sich vornehmlich mit dem Berliner Kunsthandwerk beschäftigen müssen, jetzt steht das Feuilleton hinter dem Politikteil und damit vor der Wirtschaft. Das Feuilleton ist wichtig geworden, was die Einkäufe der Konzernleitung bezeugen: Gustav Seibt, Jan Roß, Jens Jessen und Stephan Speicher wurden von der FAZ, Robin Detje und Roland Koberg von der Zeit übernommen. Fragt sich nur, ob die wertkonservativen Schöngeister sich mit den Hartgesottenen aus der Lokalredaktion vertragen. Dort arbeiten nämlich seit geraumer Zeit der gestandene Boulevard-Mann Jens Stiller und die ehemalige Tango-Dame Christine Dankbar. Irgendwo dazwischen steht Medienmacher Oliver Herrgesell, der einst bei der Woche seinen Dienst verrichtete. Die vierköpfige Chefredaktion wird versuchen, den Laden zusammenzuhalten, falls es in der Führungsetage nicht zuvor kracht: Dieter Schröder kommt von der Süddeutschen Zeitung, Michael Maier von der Wiener Presse, Ulf C. Goettges von Bild und Franz Sommerfeld vom Freitag.

So unterschiedlich die Belegschaft, so unterschiedlich ist auch die Textqualität in der neuen Berliner Zeitung. Während die Beiträge im Wochenendmagazin durch lakonische Rezensionen und opulente Reportagen überzeugen, beschränken sich die politischen Kommentare und Glossen zumeist auf abgestandene Politikberatung. Der Revolverjournalismus für das Haupstadtressort ist angemessen: Wie sonst soll man mit der permanenten Katastrophe an der Spree umgehen? Anläßlich eines "Lesertages", an dem das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, schrieb Chefredakteur Maier in einer Verlagsbeilage, die schlicht den Titel "Die Zeitung" trug, er habe einen Hubschrauber gemietet, um "die Wahrheit über die Hauptstadt" herauszufinden. Dem "New York in Berlin" war er angeblich auf der Spur, doch vergeblich. Es blieb beim Foto des Verlagshauses. "New York, nicht mehr Washington" sei das Vorbild für die Berliner Zeitung, meint der "ständige Kolumnist" Erich Böhme. Der Größenwahn hat die wenigen Besucher des "Lesertages" amüsiert: Fliegt Herr Maier auf den Mond, wenn die ersten hunderttausend Westleser verbucht sind?