All Along the Watchtower

Erst als sich der von Horror- und Katastrophenfilmen verwöhnte Westeuropäer sicher war, daß die Gewaltorgien vor seiner Haustür stattfanden - anfangs bedurfte es ungezählter Leitkommentare und einschlägiger Alternativliteratur, ihm diese Tatsache einzuhämmern -, begann der Krieg auf dem Balkan, seine ehrliche Begeisterung zu wecken.

Dabei spielte nicht die geographische Nähe die entscheidende Rolle. Der wohltuende Schauder, welcher den ehemaligen Postminister genauso durchfuhr wie die schon vom Reinlichkeitswahn befallene Hausfrau und den gelangweilten Offizier bei der Bundeswehr, war das erste Anzeichen wirklicher Solidarität. Die zivilisierten Völker ergriff die Ahnung, ein gemeinsames Schicksal könnte die durch Schaufenster, Monitore und Stahltüren schimmernde Trostlosigkeit der eigenen Existenz mit dem sinnstiftenden Treiben von Heckenschützen und Bombenopfern in Sarajevo verbinden, wo das sinnlose Leben sich in der destruktiven Sinnlichkeit des Bürgerkriegs verlor. Viel besser als die Soziologen an Universitäten illustrierte deshalb das Kriegsgeschehen in Bosnien die Zukunft einer No-Future-Generation, die ihren Triebstau weder durch Satansmessen und SM-Erotik noch durch Sport oder Wehrsport entladen kann.

Schon bald wurden Zugaben gebraucht, und da die Wirklichkeit den nimmersatten Hang zur Zerstörung nicht mehr sättigen konnte, wuchs die Zahl Vergewaltigter in der Phantasie ins Unermeßliche, entstanden Vernichtungslager als Projektion zivilisatorischen Selbsthasses.

Die bei Akteuren und Zuschauern nach einer Weile einsetzende Kriegsmüdigkeit führte zu der ernüchternden Erkenntnis, daß die Zerstörung nichts Neues hervorbrachte. Kein Phönix entstieg bislang der Asche, statt dessen beherrschen in Zagreb, Sarajevo, Pale, Banja Luka und Belgrad vorher wie nachher Gestalten die Szene, die sich auf eigentümliche Weise dadurch ähneln, daß sie ihre Anhänger durch eine Vielfalt virtueller Güter, Faschismus, Fundamentalismus, Nationalismus, bei Laune halten. Die auf den Märkten der Welt üblicherweise gehandelten Gebrauchsgüter sind nicht im Angebot der Volks-, Religions- und Bandenführer. Das hat seinen Grund darin, daß der an ehemaligen Brandherden noch warme Boden nicht das Fundament einer - auch darin sind sich alle Irren einig - von Schöngeistern beschworenen Warenproduktion, sondern für Schatten- und Vetternwirtschaft, organisierte wie unorganisierte Beschaffungskriminalität abgibt.

Diese primitiven Produktionsformen bringen naturwüchsig keine rational organisierten, den hochindustrialisierten Ländern Westeuropas und Nordamerikas vergleichhbare Nationalstaaten, sondern in sich zersplitterte Männercliquen hervor. Das im Daytoner Friedensabkommen vorgesehene Bosnien, ein "multikultureller Gemeinschaftsstaat", schindet bei den sich so herausbildenden, archaisch organisierten ethnischen Gruppen soviel Eindruck wie ein Polizist ohne Uniform.

Es bedarf einer ständigen Wachmannschaft der Nato, um die illusionäre Ordnung aufrechtzuerhalten. So ist es kein Wunder, daß bereits ein Jahr vor dem vereinbarten Abschluß der Sfor-Mission in Washington, Bonn und Paris eine Diskussion um die zukünftige Präsenz internationaler Truppen begonnen hat. Die im Vertragstext wohlwissentlich unausgesprochene Voraussetzung des Dayton-Abkommens ist die unbefristete Installation einer Besatzungsmacht. Richard Holbrooke, der wichtigste Architekt des Abkommens, sprach dies vergangene Woche zum ersten mal deutlich aus. "We must find some way out of there", beschwor er seine Kritiker, die das ganze Projekt rundum als "unrealistisch" verwerfen und von denen die forscheren mit dem gewagten Vietnam-Vergleich die Angst schüren, ihre Jungs könnten sich noch einmal in einer "Schlammschlacht" verlieren. "Wenn Dayton scheitert", hielt ihnen Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger entgegen, "wird Bosnien fast sicher in einen Konflikt zurückfallen, der sich zu einem größeren Krieg in Südosteuropa ausweiten könnte."

Die Angst, daß die Gewalt nicht nur in Bosnien weiter präsent ist, sondern als Potential in der gesamten Region schlummert, mag von den Ereignissen in Bosnien selbst oder auch denen in Albanien zu Anfang des Jahres herrühren. Aber nicht diese Anzeichen höchst unterschiedlicher Formen von Gewalt sind der wirkliche Grund, sondern die Unmöglichkeit einer Integration Südosteuropas in den Europäischen Wirtschaftsraum. Schon die jüngste Erfolgsmeldung aus Bosnien, die Arbeitslosigkeit sei dort seit Kriegsende von 90 Prozent auf 50 Prozent gesunken (der Rückgang ist ebenso eine vorübergehende Erscheinung der Aufräumarbeiten nach dem Krieg wie die Vergleichziffer eine Folge der Zerstörungen im Krieg), ist als Ausdruck von Ratlosigkeit kaum zu überbieten.