Ein Schäuble auf Abwegen

Das Scheitern der Steuerreform wird zur Staatskrise hochgespielt, und der Union-Fraktionschef will retten, was zu retten ist

Die einen reden von einem "großen Pokerspiel", auf die anderen wirkten die Verhandlungen zwischen SPD und Koalition um die Steuerreform wie eine Kampagne zur Förderung der Politikverdrossenheit. Auch die zweite Runde im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat endete letzten Donnerstag ergebnislos. Wiederum saßen die ParteienvertreterInnen bis tief in die Nacht hinter verschlossenen Türen, ließen kühle Getränke und kleine Häppchen auffahren und zelebrierten ihr Verhandlungsritual. Daß die Einigungsaussichten gegen Null tendierten, war allen BeobachterInnen von vornherein klar. Die Koalitionsdelegation marschierte mit den gleichen Reformvorschlägen in den Ausschuß, die dort wenige Wochen zuvor schon einmal abgelehnt worden waren.

Zwei unterschiedliche Konzepte stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber: Das Kernstück des Koalitionsentwurfes ist die vielzitierte "Nettoentlastung". Um 30 Milliarden Mark sollte die Steuerlast angeblich sinken. Besonders die SpitzenverdienerInnen und Unternehmen sollten von der Steuersenkung profitieren. Die SPD dagegen beharrt auf einer "soliden Gegenfinanzierung". Sie macht sich Sorgen um das Haushaltsdefizit und will die Abgabenlast nur anders, "gerechter", verteilen. Besonders vehement zog sie gegen die geplante Besteuerung der Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit zu Felde, die vor allem ihre traditionelle Klientel betroffen hätte.

Nach der gescheiterten ersten Verhandlungsrunde zwischen Bundesrat und Bundestag Ende Juli hatte die Regierung noch laut über die Blockadehaltung der angeblich politikunfähigen SPD lamentiert. Das war bequem, denn die koalitionsinternen Widersprüche gerieten dabei in den Hintergrund. Vor allem aber blieb es Finanzminister Theodor Waigel (CSU) erspart, zu erklären, wie er einerseits die Bevölkerung finanziell "netto entlasten" und gleichzeitig die Staatsverschuldung in den Griff bekommen will, um die Kriterien für die Einführung des Euro zu erfüllen.

Inzwischen aber wendete sich das Blatt. Die Regierung selbst erscheint in der Öffentlichkeit zunehmend als unfähig, als ein in sich zerstrittener Haufen. "Die Koalition ist wirklich auf einem historischen Tiefpunkt angelangt", befand die Vorsitzende der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, Kerstin Müller, am Tag nach dem neuerlichen Scheitern der Vermittlungen. Zu einem "Finanzminister auf Abruf" geselle sich ein "bis auf die Knochen blamierter" Fraktionsvorsitzender der Union. Wolfgang Schäuble hatte eigenmächtig einen Kompromißvorschlag in die Diskussion gebracht. Doch seine Anregung, Mehrwert- und Mineralölsteuer anzuheben, um damit eine Senkung der Rentenbeiträge um einen Prozentpunkt zu finanzieren, kam bei SPD und Grünen wesentlich besser an als in den eigenen Reihen. Weder die FDP, die außer dem Programmpunkt "Steuern senken" nicht mehr viel zu bieten hat, noch die BMW-Partei aus Bayern, die die Mineralölsteuer haßt, noch Kanzler Kohl mochten sich mit Schäubles Vorstoß anfreunden. Der erfahrene Politprofi mußte das wissen. Über seine Motive zerbrachen sich die JournalistInnen tagelang den Kopf. Will sich Schäuble von der FDP verabschieden und langfristig eine Große Koalition mit der SPD eingehen? Versucht der bislang stets kanzlerloyale Kronprinz nun, aus dem Schatten des übermächtigen Helmut Kohl zu treten? Oder fürchtet Schäuble das Staatsversagen in der Steuerfrage und den damit einhergehenden Legitimitätsverlust tatsächlich so sehr, daß er sich zu diesem tollkühnen Rettungsversuch gezwungen sah?

Grund genug dafür hätte er, denn das Geschrei nach dem Aus für die "Große Steuerreform" ist groß. Hatte die Regierung ihre "Jahrhundertreform" zuvor zu dem Rettungsanker für die Volkswirtschaft stilisiert, so scheint es nun, da das Werk Waigels eher eine Jahrtausendreform zu werden droht, als führe der Weg Deutschlands steil bergab. Von "Blockade" und "Selbstfesselung" der parlamentarischen Institutionen ist allerorten die Rede. Europäische Nachbarn wie Großbritannien und die Niederlande hätten ihre Systeme erfolgreich modernisiert und ihrem Staatsvolk neuen Mut eingeflößt. Deutschland aber ersticke in der Wahltaktiererei der Parteien und werde den Anschluß im globalen Standortrennen verlieren. Das sei "ein Schlag ins Gesicht jedes Arbeitslosen", sorgte sich ausgerechnet der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, plötzlich um den Personenkreis, den er und seinesgleichen erst arbeitslos gemacht haben.

Das Gezeter über den Bonner "Reformstau" mag verlogen und hysterisch sein. Es wird trotzdem seine Wirkung zeigen. "Die Reform-Versager: Sie fahren Deutschland an die Wand", titelte beispielsweise die Hamburger Morgenpost. Die Boulevard-Zeitung beklagt, daß "Partei-Interessen über die Sache gestellt" würden und orakelt, Sieger des Steuerfiaskos würde die "Partei der Nichtwähler" sein. Wo aber Arbeitslose und KapitalistInnen in einem Boot sitzen und eine übergeordnete "Sache", ein fiktives Staats- und Volkswohl, im Streit der Parteien vor die Hunde geht, da schreit förmlich alles nach einer eisernen Hand, die mit dem lähmenden Parteigezänk endlich aufräumt. Die Bonner Regierungskoalition beeilt sich nun, den Eindruck der Handlungsunfähigkeit zu vermeiden. Reformvorhaben, bei denen man auf die Bundesratsmehrheit verzichten kann, sollen schnellstmöglich umgesetzt werden. Plötzlich erscheint auch die FDP bereit, die Senkung des Solidaritätszuschlags mit Steuererhöhungen teilweise gegenzufinanzieren. Neben einer Erhöhung der Tabaksteuer, zu der die Regierung aus EU-rechtlichen Gründen ohnehin gezwungen ist, soll eine neue Abgabe auf Lebensversicherungen erhoben werden. Die Union ist im Gegenzug bereit, ein neues Haushaltsloch von einer Milliarde Mark hinzunehmen.

Die übrigen Einnahmeausfälle sollen mit neuen Sparmaßnahmen wieder hereingeholt werden. So richtig lohnen wird sich die Besteuerung von Lebensversicherungen erst durch das zweite große Projekt der Koalition: die Strukturreform der gesetzlichen Rentenversicherung. Private Lebensversicherungen werden sicherlich begehrter, wenn, wie angedroht, zum 1. Januar 1999 das Rentenniveau von 70 auf 64 Prozent gesenkt wird.