Heilsarmee für Waffenstillstand

Algerien: Widersprüchliche Berichte zu den jüngsten Massakern. Die Islamistische GIA soll sich zu ihnen bekannt haben

Nach dem Massaker in Bentalha, einem Vorort von Algier, wo vergangene Woche über 200 Zivilpersonen auf einem Platz zusammengetrieben und abgeschlachtet worden waren, wird die Diskussion in Frankreich von widersprüchlichen Spekulationen beherrscht. So berichtet Libération über Bentalha: "In diesem Wirrwarr von kleinen Baracken hatte jeder oder fast jeder bei den Wahlen 1991 die Islamische Heilsfront (FIS) gewählt. Bei der letzten Wahl im Juni 1997 hatte man die Empfehlung des mittlerweile illegalen FIS befolgt: Wahlboykott. (...) Bentalha stand daher seit Beginn der Krise unter Überwachung (der Regierung). In diesen seit sechs Jahren abgeriegelten Vorort sind am Montagabend Männer in Lastwagen gekommen, ohne behelligt zu werden." Libération zitiert einen in Südfrankreich lebenden Algerier, der in Bentalha 12 Angehörige seiner Familie verloren hat: "Sie waren gut rasiert, überhaupt nicht ausgehungert." Soll heißen: Sie sahen nicht aus wie islamistische Terrorristen.

Der Artikel in Libération legt nahe, daß Mitglieder der bewaffneten Staatsorgane das Massaker begangen haben könnten. Hingegen erwecken der Bericht von Hassan Zerouki in der KP-Zeitung L'Humanité vom selben Tag und die daneben abgedruckten Kommentare von Mohamed Benchicou, Direktor der algerischen Tageszeitung Le Matin, sowie der algerischen Feministin und Abgeordneten der demokratischen Oppositionspartei RCD, Khalida Messaoudi, den gegenteiligen Eindruck. Hassan Zerouki schreibt: "Nach unseren Informationen hat sich das Kommando der Fundamentalisten zweigeteilt. Der erste Trupp habe einen heftigen Zusammenstoß mit der Armee erlebt, welche ankam, während der zweite die Dorfbewohner angriff. Gendarmen seien auf Minen getreten, welche die Angreifer am Eingang der Siedlung gelegt hatten. Zahlreiche Angreifer der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) seien getötet worden."

Gegen die Libération-These vom Massaker durch das Regime spricht, daß Premierminister Ahmad Ouyahia just am Vorabend im Fernsehen erklärt hatte, der Terrorrismus sei weitgehend unter Kontrolle. Auch das zweifellos mafiöse Militärregime dürfte kaum daran interessiert sein, sich derart offenkundig zu desavouieren. Warum aber die auch bei vorangegangenen Massakern festgestellte Zurückhaltung der Militärs, dem Schlachten ein Ende zu setzen?

Der demokratische Oppositionspolitiker Said Sadi (Interview in Humanité Dimanche vom 4. September) und Hassan Zerouki haben dazu die These aufgestellt, angesichts massiver Lebensgefahr für die Soldaten selbst bestünde eine massive Demotivierung einzugreifen. Die Armeeangehörigen würde durch die Geheimverhandlungen zwischen der Armeeführung und der islamistischen Partei FIS über einen "Kompromiß" - das heißt: eine mögliche Machtteilung - noch bestärkt, da nicht mehr zu erkennen sei, wofür sie sich noch töten lassen sollten.

Umgekehrt hat die katholische Tageszeitung La Croix Mitte September die These - die vom Wochenmagazin Le Point übernommen wird - in die Welt gesetzt, Teile des militärischen Apparats befänden sich im Streik und griffen bewußt nicht ein, damit sich die Situation verschlimmere - um so die Verhandlungen zwischen dem Regime und dem FIS scheitern zu lassen. Verantwortlich dafür sei Generalstabschef Lamari, der das Lager der "Dialog-Gegner" innerhalb der Armee anführe.

Dagegen sprechen allerdings mehrere Indizien. So führt nach einem Bericht von Libération Generalstabschef Lamari die Geheimverhandlungen mit dem FIS", Lamari sei der einzige, "dessen Position stark genug ist, um die Initiative zu solchen Verhandlungen zu ergreifen, ohne der Komplizenschaft mit den Islamisten verdächtigt zu werden"; er fordere von diesen die Integration ins bestehende Regime über die legal existierenden Parteien wie die islamistische Hamas-MSP, die derzeit sieben Minister stellt. Diese Idee einer Einbindung der Fundamentalisten ist nicht neu: Von 1995 bis 1997 gehörte eines der Gründungsmitglieder des FIS der Regierung an, Religionsminister Mehri.

Übereinstimmend berichten alle Zeitungen, daß der bewaffnete Arm des FIS - die "Islamische Heilsarmee" AIS - zu einem Waffenstillstand mit dem Regime aufrufe. Die Auslandsvertretung der FIS hat sich nach Agenturmeldungen diesem Aufruf mittlerweile angeschlossen und ihn um die Forderung nach einer Generalamnestie ergänzt. Zudem solle eine nationale Versöhnungskonferenz mit Vertretern des Staatsapparates, der FIS und aller gesellschaftlichen Kräfte durchgeführt werden.

Die Bewaffneten Islamischen Gruppen GIA akzeptieren erwartungsgemäß diesen Waffenstillstand nicht. In einem am 26. September in London veröffentlichtes Kommuniqué hat die GIA sich zu den jüngsten Massakern in Algerien bekannt und die Waffenruhe der AIS verdammt: "Möge Gott erlauben, ihnen die Köpfe abzuschneiden." Sie bedrohen Frankreich mit "baldigen Zerstörungen und Niederlagen" - im Sommer und Herbst 1995 hatte es blutige Attentate auf öffentliche Transportmittel in französischen Großstädten gegeben. Die USA und die "von den verfluchten Juden beherrschte UNO" werden aufgefordert, es Frankreich nicht gleichzutun, welches "das gottlose Regime" unterstütze. Die französischen Geheimdienste halten das Schreiben für authentisch.