Klare Verhältnisse

Nach den Hamburg-Wahlen: SPD im Projektionstest erneut gescheitert

Beginnen wir mit der Provinz: Die Aachener Nachrichten entdeckten im Hamburger Wahlergebnis eine "Ohrfeige für die Politik", das gute Abschneiden "einer Gruppierung aus dem Rechtsaußenlager" sei "schon ein deutliches Alarmzeichen und ein Ausdruck des Protestes gegenüber den traditionellen Parteien". Aha. Was schreibt die Metropole? "Auf differenzierte Weise haben" die Wähler "die Bundestagsparteien, die in ihrem Streit um Steuern und Renten seit Monaten auf der Stelle treten, auf den Boden der Tatsachen geholt." Wie schon im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg, so die Süddeutsche Zeitung weiter, "mußte die SPD die Erfahrung machen, daß sie mit 'rechten Themen' nicht gewinnen kann." Hmm.

Die Zeit, die für den Standort ihrer Redaktion ein rot-grünes Bündnis präferiert, packt die Essenz solcher Wahlanalysen in die Schlagzeile: "Populismus lohnt sich nicht. Die Politik des Stammtischleindeckdich beschert der SPD nur Verluste." Ein Redakteur war im Stadtteil Wilhelmsburg - DVU und Republikaner erreichten in der ehemaligen SPD-Hochburg zusammen 17,4 Prozent - und hat eine Truppe aus der Protestwählerschaft interviewt. "Man täte dem wütenden Rentnerquartett unrecht, vergliche man es mit jenem Typus des hartgesottenen Altnazis, den die Republik immer kannte (...). Daß die Partei ihrer Wahl, die DVU, die jetzt immerhin in der Bezirksversammlung eine starke Fraktion bildet, etwas in ihrem Sinne bewegen kann, glauben sie nicht. Sie wissen nicht mal, ob ihre Interessen überhaupt vertreten werden. Niemand kennt die gerade gewählten DVU-Mandatsträger. Einen Ansprechpartner gibt es nicht." Die DVU wurde nicht deshalb, sondern trotzdem gewählt. Ein Drittel der 45 000 Wilhelmsburger sind Einwanderer, folgerichtig erläutert einer der Protestwähler - wie die anderen ehemals treuer SPD-Gefolgsmann - seine Entscheidung stellvertretend für alle so: "Alle politisch verfolgt, alle Sozialschmarotzer. Ein Leben lang haben wir Krankenversicherung gezahlt, jetzt müssen wir für jedes Medikament draufzahlen, aber die Kanaker kriegen alles umsonst. Als Deutsche sind wir bloß noch zahlende Arschlöcher, und irgendwann drängen die uns hier mal ganz raus."

Die Schlüsse, die die Zeit-Redakteure aus all dem ziehen, sind in zweierlei Hinsicht verkehrt. Zum einen: "Wenn nun die SPD und auch die CDU zum Populismus neigen, betreiben sie letztlich Opposition gegen sich selber." Wieso? Die Ausländer-raus-Dealer-in-den-Knast-Bettler-vertreiben-Front hat immerhin insgesamt über 80 Prozent der Stimmen erhalten; FDP-Chef Gerhardt, dessen Parteifreunde hier etwas still blieben und nur 3,5 Prozent der Stimmen erhielten, plädierte am Tag nach der Wahl in Focus für die schnelle Abschiebung "krimineller Ausländer". Zum zweiten: "Wenn sich SPD und CDU etwa in Fragen der inneren Sicherheit unentwegt zu überbieten versuchen, wenn sie sich im Wettbewerb um die Gunst verunsicherter Bürger aufschaukeln, dann schüren sie eben jene Ängste und Ressentiments, die sie zu dämpfen vorgeben." Nochmal wieso? Verunsicherte Deutsche leiten ihre persönliche Misere kollektiv und traditionell aus dem Wirken dunkler, raum- und volksfremder Mächte ab, deshalb wetteifern die Parteien um das glaubwürdigste Ernstnehmen der Ängste. Der schmuddelige DVU-Funktionär, der sich aus Angst vor den Autonomen nicht zur Wahlkundgebung auf die Straße trauen kann, ist der Zwillingsbruder des entrechteten Protestwählers, die geteilte Anonymität des kleinen Mannes macht sie einander sympathisch. Die antisemitische Formel vom "Sozialschmarotzer" - das Pendant zu dem am sozialen Oberrand angesiedelten "raffenden Kapital" - zeigt einmal mehr, daß der letzte Trost der Verlierer im national zentrierten Widerstand gegen die Gleichmacherei der neoliberalen Verelendung liegt.

Insofern liegt auch der Historiker Götz Aly falsch, der in einer hintergründig angelegten Analyse in der Berliner Zeitung behauptet, die SPD leide darunter, daß ihre traditionelle "Verheißung von Egalität", die "Programmatik des Sozialstaates", in Krisenzeiten nicht einlösbar sei. Die "Partei muß heute Wein predigen und Wasser austeilen". Sie sei gezwungen, das Thema "soziale Sicherheit" auf den Schutz vor Kriminalität zu begrenzen: "Sie reduziert ihre soziale Utopie auf ihr physisches Minimum." Aly, der sich gleichzeitig prinzipiell dagegen wendet, den Staat zur "Projektionsfläche für privates Versagen" zu machen, empfiehlt der SPD, anstelle einer ständigen Erweiterung obrigkeitlicher Aufgaben und Versprechungen endlich die "prinzipiell unauflösbare Spannung zwischen dem Staat und dem Einzelnen zu thematisieren". Diese - auch beim akademischen Grünen-Anhang beliebte - stockkonservative Idyllisierung der frühkapitalistischen Idee vom eigenverantwortlich-kreativen Individuum korrespondiert, soweit sie die SPD im Visier hat, auf fast schon wundersame Weise mit traditionskommunistischen Analysen.

So nämlich bilanziert das DKP-Blatt Unsere Zeit (UZ) am vergangenen Freitag "Voscheraus Desaster": "Das Hamburger Wahlergebnis hat erneut gezeigt, daß weder CDU noch SPD auf die drängenden Fragen der Gegenwart eine Antwort geben können. Es nimmt also die Parteien- und Politikverdrossenheit weiter zu." Kein Wort darüber, daß die potentielle Klientel der Kommunisten in nennenswerter Anzahl von den Sozialdemokraten zu den Rechtsextremen überläuft, aber dies: "Denn sowohl Scharping als auch Schröder beziehen mittlerweile Positionen, die von Schäuble und Stoiber stammen. Das kann keine erfolgversprechende Konzeption für 1998 und die Bundestagswahlen sein." Wo Götz Aly der SPD ein Zuviel an Egalitarismus vorwirft, machen die Kommunisten ein Defizit aus. Beiden Argumentationen gemeinsam ist die Weigerung, zur Kenntnis zu nehmen, daß das utopische Potential, das den Sozialdemokraten einmal vorgehalten und einmal abgefordert wird, längst nicht mehr existiert. Gerade die aktuelle Antikriminalitätskampagne von Schröder/Voscherau zeigt, daß die Sozialdemokratie durchaus bereit ist, bürgerlich-republikanische und menschenrechtliche Gleichheitsstandards für ein Bündnis mit dem volksgemeinschaftlichen Mob zur Disposition zu stellen.

So endet alles in enttäuschter Liebhaberei: Leute wie Aly wollen von der SPD eine neoliberale Aufklärung, die DKP will Bündnispartner. Was Aly will, geht nicht, die Kommunisten - nicht nur in der DKP - aber sollten darüber nachdenken, ob das Wesen der Sozialdemokratie noch mit Bezug auf die alte Lenin-These von der "Arbeiteraristokratie" erklärbar ist. Wenn man dann zu der Erkenntnis käme, daß die heutigen Sozialdemokraten all over Europe keine "pervertierten Arbeiterparteien" sind, sondern ausgrenzungswillige Vollzugsbeamte der ökonomischen Sachzwänge, dann würde der UZ zu den von Schröder verantworteten Grundsätzen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik nicht nur die Frage einfallen: "Und das soll nun sozialdemokratische Wirtschaftspolitik sein?" Sondern auch eine Antwort: ja.