Meine Orte

Berlin, Köln, Lüneburg, Eldingen, New York. Von Bernd Rauschenbach

Mit Bernd Rauschenbachs "Meine Orte" beginnen wir eine neue Serie. Autoren porträtieren Städte, die Sie besser nicht besuchen sollten. Die Texte erscheinen im Februar 1998 in dem von Jürgen Roth und Rayk Wieland herausgegebenen Buch "Öde Orte. Ausgewählte Stadtkritiken von Aachen bis Zwickau" bei Reclam in Leipzig.

Allow me to introduce myself: Geboren wurde ich Sommer 1952 mit einem Plastiklöffel im Mund, und zwar am Fuße des Berliner Kreuzbergs, im Bezirk Kreuzberg. Nicht im proletarischen SO 36, sondern am relativ gutbürgerlichen Mehringdamm - immerhin Franz, nicht Walter und immerhin Hinterhof, Quergebäude, 4. Stock.

Mein ebenfalls in Berlin geborener Vater, ein wegen Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht und Kriegsgefangenschaft (Straßenbau im Kaukasus mit erfolgreich abgeschlossenem Histomat-Lehrgang) verhinderter Chemiker, bemühte sich

in den fünfziger Jahren erfolgreich als inzwischen gelernter Maurer, meine schönsten Spielgründe (die letzten Trümmergrundstücke und Ruinen und die ersten Baugruben) in Sozialbauwohnungen mit "Kunstambau" (was immer das sein mochte) umzuwandeln. Später bildete er sich nach Feierabend zum Beton-Polier weiter und wurde schließlich Oberbauleiter - heute scheint er, als Rentner, vornehmlich davon zu leben, heimatkundliche Wanderungen durch die Mark Brandenburg zu machen oder archäologische Ausgrabungen in Nahost und Südamerika zu besichtigen.

Meine Mutter (durch Flucht aus Ostpreußen und jahrelange Verschleppung nach Sibirien verhinderte Musiklehrerin) zeigte mir, sobald ich alleine laufen konnte, wirtschaftswunderliche Reihenhäuser in Tegel, die architektonisch und sozial funktionierende Hufeisensiedlung in Britz (von Bruno Taut entworfen, mit Erich Mühsam als prominentestem Mieter - was ich freilich erst viele Jahre später erfuhr, als ich längst wußte und meist verabscheute, was "Kunstambau" war) und feine Villen am Wannsee - , weniger aus heimatkundlichem Interesse, sondern, weil sie bei den jeweiligen Bewohnern sauber machte und ein Kindergartenplatz weder finanziell noch pädagogisch drin war. Heute scheint sie vornehmlich davon zu leben, den Betonköpfen ihrer ostpreußischen Landsmannschaft zu erklären, daß Russen auch Menschen sind und Ostpreußen zwar schön, aber endgültig perdu ist. (Vor zwei Jahren habe ich mir mal die Gegend anschauen können, in der sie aufgewachsen ist. Von ihrem Dorf steht kein Haus mehr: Es ist, wie viele andere Orte in Nord-Ostpreußen, erst 1968 nach Unterzeichnung der Ostverträge auf Breschnews Anordnung zerstört worden: unschön, aber nicht dumm.)

Was das alles soll Ö??.. - - Ja kann man denn über Heimat, Zuhause und Wohnorte reden, ohne seine Herkunft kurz vorgestellt zu haben?

Nö.

Was also waren die Ortseindrücke der ersten Jahre?: Ruinen, Provisorien, Wandel, Abriß, Aufbau? - Ja, schon. Aber diese Wörter sind Konstrukte späterer Jahre, späterer Erinnerungen. Sie bezeichnen kein originäres Erleben. Wenn ich nicht lüge, war das stetige Alltags- und Normalgefühl durchaus das des Nicht-Stetigen, des Wandels. Aber da der Wandel alltäglich war, wurde er andererseits nicht als solcher wahrgenommen - vielmehr als stetige Normalität. (Daß sich jetzt die Katze in den Schwanz beißt, sehe ich auch, und vermutlich ist es richtig und gut so.)

Achtundzwanzig Jahre lebte ich auf der Insel West-Berlin, genannt "Berlin"; eine Stadt, die 44 Jahre Frontstadt und Bollwerk gegen "den Osten" war und die heute am meisten darunter leidet, nun selbst Osten zu sein. Über vier Jahrzehnte prosperierende Kriegsgewinnlerin, und plötzlich steht an jedem zweiten Straßenbaum ein pissender Pole oder ein reihernder Russe - das Leben kann so ungerecht sein, wenn es nur will. - Ich selbst kenne diese Klagen allerdings nur aus den Mündern daheim Zurückgebliebener, denn ich zog schon 1980, als ich dort Arbeit bekam, nach Köln am Rhein.

Gute Güte! Warum denn ausgerechnet Köln!! Das war (wie ich an der Front gelernt hatte) nicht nur der geographische Gegenpol zu Berlin. Das war die Stadt Willi Millowitschs (rülps), die Stadt kleiner labbriger Biere (kotz), die Stadt des Rosenmontags (kotz-kotz), des Adenauer-Katholizismus (kotz-kotz-kotz) und einer Sprache, die man nur verstehen konnte, wenn man wie Heinrich Böll aussah (Ivan, laß mich an den Baum!).

Mit das erste, was ich in Köln sah, war, daß kürzlich eine "Eintrachtstraße" in "Kardinal-Frings-Straße" umbenannt worden war, wovon noch das durchgestrichene "Eintracht"-Schild zeugte; und mir fiel bald ein: Das war der, der um 1949 so ziemlich als erster öffentlich Atomwaffen für Deutschland gefordert haben soll. (Frings, nicht Eintracht.) Die katholische Kirche war dann auch das einzige, was ich in den folgenden zweieinhalb Jahren an Köln nicht lieb gewann - d.h. die Firma -, der Dom hat schon zu Recht die letzten Kriege überlebt und möge bitte auch die kommenden überstehen. (Das Dom-Kölsch freilich steht auf einem anderen Blatt: Das trinkbarste Bier Kölns ist und bleibt hoffentlich das Päffgen - bitte in der Friesenstraße trinken, nicht in der Altstadt.) Zugegeben: Der Karneval ist von außen schwer zu ertragen; aber historisch interessant bleibt doch immer, daß die Funkenmariechen und Karnevalsgarden, die Säuferorden und Mumpitzuniformen und Narrhallamärsche achtzehnhunderthummtata als Verarschung der preußischen Besatzertruppen entstanden sind. Überhaupt zeichnet den Kölner eine von der Spree aus gesehen schon fast mediterran zu nennende Toleranz und Lokkerheit aus, die selbst Willi Millowitsch beim genaueren Hinsehen erträglich und nach zwanzig Kölsch fast liebenswert macht.

Die Jahre '83 bis '86 verlebte ich in Lüneburg. Über die baulichen Schönheiten der Backsteinstadt informiert mehr oder minder zutreffend jeder Reiseführer; über die Einwohner reicht zu wissen, daß sie mehr oder minder klaglos hinnehmen, wie innerhalb ihrer Mauern ein Moravia Premium Pils nicht nur gebraut, sondern auch ausgeschenkt wird. (Ich will nicht ungerecht sein: In Lüneburg gibt es in einer Gasse mit dem schönen Namen Schlägertwiete ein thailändisches Restaurant, das den Besuch der Stadt lohnt; auch kann man einen schiefen Kirchturm sehen. Und das Ostpreußische Jagdmuseum wird dem Vernehmen nach aus Geldmangel bald geschlossen.)

Im Spätherbst 1986 zogen meine Frau und ich näher an unsere Arbeitsstätte, die in einem Dorf mit 140 Einwohnern in der Südheide liegt, 22 km nordöstlich von Celle. Dies Dorf hat zwar einen Gasthof, aber keinen Kaufmannsladen - (weiß nicht, wann ich dieses Wort das letzte Mal verwendet habe) -; und so suchten wir uns ein Haus im nächstgrößeren Nachbardorf 2 km südlich: Eldingen hatte vor zehn Jahren sogar vier Dorfkneipen und eine ganze Handvoll Läden. Drei der Kneipen sind inzwischen geschlossen; die vierte ist mit Hilfe von Karnickeldraht und mehreren Zentnern Moltofill in eine griechische Tropfsteinhöhle verwandelt worden.

Das (nicht etwa auf unsere Gegend beschränkte) Dorfkneipensterben hat seine Ursache im habituellen Geiz und angeborenen Separatismus des Dorfbewohners. Der Dörfler ist nämlich gern bereit, ein geschlagenes Jahr und länger nach Feierabend und an Wochenenden tüchtig zuzupacken, damit er es dann den Rest seines Lebens im kleinen Kreise seiner ewig gleichen Vereinskameraden - - - ja, nun nicht etwa gemütlich und schön, nein: billig und ungestört hat. Und so hat der Tennisverein sein in Eigenleistung errichtetes Tennisheim, der Sportverein sein Sportlerheim, die Freiwillige Feuerwehr ihr Feuerwehrheim, der Schützenverein sein Schützenhaus, der Landfrauenverband seine Landfrauenverbandbaude, der Kegelverein seine Kegelhütte, und die Jäger haben ihren Jägersitz. Die Ausstattung der jeweiligen Heime reicht, je nach Finanzkraft des Vereins, von der einfachen Bierkästenstapelecke mit an die Wand genageltem Flaschenöffner über die Partykeller-Bierdosenzapfstation bis zur professionellen Biertheke. (Nur der Verein der Landjugend muß sich mangels Landjugendkeller zu seinen abendlichen Trinkgelagen um die Bushaltestelle herum versammeln - angeblich plant man aber die Errichtung eines Wartehäuschens in Eigenleistung.) So sitzt der Dörfler an zwei, drei Abenden pro Woche in seinem Vereinshaus und trinkt sein Bier fast zum Einkaufspreis und freut sich, daß er im Kreis seiner Kameraden immer wieder dasselbe reden und hören darf und dabei auch noch Geld spart - denn der Dorfwirt hat neulich schon wieder die Bierpreise raufgesetzt, weil er kaum noch Gäste hat und einfach nicht über die Runden kommt. Wahrscheinlich wird er seine Kneipe eh bald zumachen und mit Ex-Wirten aus den umliegenden Dörfern ein Vereinsheim der Ex-Wirte bauen. (Ist dieses ganze Phänomen eigentlich in Brüssel bekannt? Ich meine: Wie will man ein vereintes Europa zusammenbasteln, wenn Dorfnachbarn nicht mal mehr zusammen in einer Kneipe sitzen wollen???)

Aber von den wenigen Kneipen einmal abgesehen (na ja, und von guten Restaurants, Kinos, Theatern und Konzerthallen - und Zigarrengeschäften) -: Das Leben auf dem Lande ist für einen Städter - (und der bleibt man, auch wenn man auf dem Lande wohnt) - sehr angenehm. Gerät man als Sommerfrischler aufs Land, muß man von morgens bis abends durch insektenreiche Wälder wandern, sich das Schuhwerk in Sümpfen ruinieren, auf Weiden vor Stieren herrennen, in undurchsichtigen, eiskalten Fischteichen schwimmen, sich die Waden von Brennesseln röten lassen und sein Picknick mit Ameisen teilen. Wie ruhig und gemütlich kann man dagegen als ständiger Landbewohner am Schreibtisch sitzenbleiben. - Herrlich, der Wald da draußen?? - Ja ja, der steht auch übermorgen noch da. - Was, die Lärchen singen über dem Getreidefeld? Also erstens singen nur die mit "e", und zweitens singen die jedes Jahr. - Die Natur läuft einem nicht davon, und die Landschaft ist auch demnächst noch schön. Kurz: Vom eigentlichen Land nimmt man nur etwas wahr, wenn mal Besuch aus der Stadt kommt. Und der ist selten. Denn erstens kann man auf dem Land so herrlich konzentriert arbeiten, daß man kaum noch Zeit für Besucher hat; und wenn man doch mal Zeit hat, fährt man lieber selber in die Stadt, um endlich mal wieder Filme, Theater, Bars, Restaurants, von Autos befahrene Einkaufsstraßen und urbane Menschen zu sehen.

Das seit langem erhabendste Natur-Erlebnis jedenfalls hatte ich während meiner letzten Urlaubsreise: Ein sonniger Maimorgen im New Yorker Central Park. Eichhörnchen, alle Vögel Audubons, verschlungene Pfade in "The Ramble" - und dann der atemberaubende Blick vom Südostufer des "Lake" auf die Apartment-Burgen am Central Park West: Mein Ort. - Die zweite, erweiterte Auflage dieser Anthologie möge nicht eher erscheinen, als bis ich dort wohne.

Bernd Rauschenbach ist Secretär der Arno Schmidt Stiftung und lebt in Eldingen bei Bargfeld/Niedersachsen. Letzte Buchveröffentlichung (gemeinsam mit W. Gronius): "Stücke 2", Weidle Verlag, Bonn 1997

In der nächsten Jungle World schreibt Michael Ringel über Moers: "Glotzen, kiffen, kalben"