Sieg über die Schwerkraft

Sasha Waltz' Tänzer vermeiden den Bodenkontakt. "Zweiland" bei den 47. Berliner Festwochen

Unwahr ist, daß alles, was doppelt oder geteilt ist, gleichbedeutend mit Deutschland sein muß. Wahr ist, daß die diesjährigen Berliner Festwochen tatsächlich das Motto "Deutschlandbilder" haben. Dieser geistreiche Obertitel ist zum Beispiel bei "Zweiland", dem neuen Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests, schuld daran, daß sich assoziativ schon wieder deutscher Ost-West-Schmock mächtig aufdrängelt. Und da es sich bei "Zweiland" um ein Auftragswerk der "Deutschlandbilder"-Festivitäten handelt, denkt natürlich alles an BRDDR und niemand an Mesopotamien, das wahre Zwei(strom)land, niemand an Österreich-Ungarn, an lechts-rinks und dergleichen mehr. Zum Glück allerdings demonstriert "Zweiland" genau dieses bipolare "Darüber hinaus" jenseits von Sinnsprüchen und Lokalpatriotismus.

Am Anfang ist es finster. In einem schmalen Lichtkegel stehen dann zwei Männer mit Unterhosen, Socken und Schuhen hauteng aneinander. Sie atmen im gleichen Tempo und tun trotzdem so, als hätten sie nichts miteinander zu schaffen. Sobald sich synchrone Bewegungen einstellen, werden sie wütend abgebrochen und dennoch gleich neue probiert. Aus dem Mund des einen ziehen beide unsichtbare Spinnweben oder verklemmte Sätze hervor. Natürlich wird kein Wort gewechselt und jeder Blickkontakt vermieden.

Ein dritter Mann tritt hinzu. Er steckt in einem zu kleinen Anzug und will nicht nur zuschauen. Also drängt er sich vehement zwischen das Paar. Das schließt ihn zuerst aus, gestattet ihm dann überraschend, eine Weile mitzuspielen, und läßt ihn schließlich einfach stehen. Gleichzeitig führt eine Frau eine andere Frau an einem Seil, das an deren Zopf befestigt ist. Die Angebundene organisiert ihre Bewegungen nach den Ökonomie der langen Leine und singt von den zwei Königskindern, die nicht zueinander kommen konnten. Sie müssen frühe Vorfahren dieser solipsistisch verkapselten, bizarr verbundenen Großstadt-Pflanzen gewesen sein.

"Zweiland" findet in einem unwirtlichen, desolaten Überall statt, auf einer gesichtslosen Straße, an einer fleckigen Mauer, vor der ein Haufen Sperrmüll liegt. Es ist ein Stück von der Straße, und es spielt geschickt mit deren Sitten, Gebräuchen und Lebewesen. Sasha Waltz benutzt diese jedoch nur als Rohmaterial für eine Choreographie, die auf die Überwindung des Konkreten als Sieg über die Schwerkraft abzielt.

Anders als zuletzt in "Allee der Kosmonauten" (1996) klebt die Inszenierung nicht mehr am rein Dekorativ-Erzählerischen. Sobald sich eine buchstabierbare Geschichte zu entwickeln droht, läßt Waltz die Tänzer leichtfüßig abheben: Die kraftvolle Sprache der Körper formuliert ihr eigenes souveränes Spektakel. Die gekonnt ins Absurde vergrößerten Szenen kümmern sich nicht um nationale Geographie oder historische Logik. Stattdessen kreiseln die drei Frauen und vier Männer wie Derwische scheinbar besinnungslos um sich selbst oder nehmen eine der ihren hoch, lassen sie durch immer neu geschaffene Unterlagen, Überbrückungen, Hebefiguren über der Erde schweben und jeden Bodenkontakt als überflüssig empfinden.

Bis zum nächsten Grabenkampf, der wiederum die Leichtigkeit der darauf folgenden Szene vorbereitet. Der Wechsel aus dramatischer Konfrontation und poetischem Befreiungsschlag bestimmt die vergänglichen Momentaufnahmen von Anziehung und Abstoßung, Vereinzelung und Gruppe, aus flüchtigen Begegnungen, die sich in individuellen Ekstasen auflösen. Lauter genau gezeichnete Miniaturen, die ein Panoptikum vertraut anmutender Stadtgeschichten nach allen Regeln der hohen Tanzkunst und wohltuend humorvoll verfremden. Spontan bauen die Tänzer aus dem Abfallhaufen einen Kiosk zusammen, der später als Kontrollhäuschen dient, als Laden, als Kneipe, als Jahrmarkts-Wurfbude. Gleich darauf zerlegt einer diese Konstruktion mit atemberaubender Slapstick-Rasanz, die selbst im Stummfilm aberwitzig wäre. Hier ist sie live. Ein ausnahmsweise glückliches Liebespaar tanzt selbstvergessen zu einem schepprigen Konserven-Tango. Bald wird es getrennt. Ein Mann legt sich eine Leiter über die Schulter, die beiden hängen sich in ihre Enden, worauf er sich immer schneller zu drehen beginnt. Das lebendige Karussell erfüllt den Traum vom Fliegen.

Der Mann mit der Leiter ist Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Tänzer, Countertenor und Zeremonienmeister der Aufführung. Mit glockenheller Stimme singt er, wie ein Wesen von einem fernen Stern, barocke Volksweisen und mittelhochdeutsche Minnelieder in das verworrene urbane Beziehungsgeflecht, allein oder in komplizierten A-Cappella-Vokalsätzen mit dem Ensemble. Am Schluß läßt Amor es aus der Gießkanne regnen und treibt die street people gemeinsam unter's Budendach. Zueinander finden sie freilich nicht. Doch worüber man nicht reden kann, läßt sich, äußerst unterhaltsam, tanzen.

"Zweiland" Regie/Choreographie: Sasha Waltz. Tänzer: Luc Dunberry, Nicola Mascia, Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Takako Suzuki, Laurie Young, Vivianne Rodrigues de Brito, Klaus Jürgens. Weitere Vorstellungen: 2.-5., 8.-12. Oktober, Sophiensäle, Sophienstr. 18, Berlin; 22./23. Oktober, Grand Théatre Groningen; 3.-6. März 1998, Staatsschauspiel Dresden