»Supergrundrecht Sicherheit«

Interview mit Rolf Gössner zur Forderung von Rechtsanwälten, die RAF-Sondergesetze abzuschaffen
Von

Mehrere Vereinigungen von RechtsanwältInnen und StrafverteidigerInnen haben 20 Jahre nach dem Deutschen Herbst 1977 in einer Erklärung die Abschaffung der RAF-Sondergesetze gefordert. Um welche Gesetze geht es da im einzelnen?

Es geht in erster Linie um einen Kernbestand des "modernen" politischen Strafrechts und um Verschärfungen des Strafprozeßrechts, die in den siebziger Jahren erfolgt sind. Es handelt sich um ein "Anti-Terror"-Sonderrechtssystem, dessen Kern der ¤ 129a des Strafgesetzbuches - Mitgliedschaft, Unterstützung, Werbung für eine "terroristische Vereinigung" - darstellt. Dieser Organisationstatbestand ist eine Schlüsselnorm, mit der bei einem "Terrorismusverdacht" weitere Sonderbefugnisse der Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte eröffnet werden können: etwa die Durchführung von "Jedermann"-Kontrollen bei Fahndungen, Untersuchungshaft ohne Haftgrund, die Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten vor Gericht und das sogenannte Kontaktsperregesetz, nach dem in bestimmten Situationen sämtliche Kontakte der Gefangenen abgebrochen werden können, auch zu Angehörigen und Vertrauensanwälten.

Warum hat der Staat damals mit einer speziellen Gesetzgebung auf die Aktionen der RAF reagiert?

Mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback, Bankier Ponto und der Entführung und späteren Ermordung von Arbeitgeberpräsident Schleyer wurden Symbolfiguren von Staat und Gesellschaft getroffen. Der Staat hat diese "Kriegserklärung" angenommen und sich faktisch wie in einem Ausnahmezustand verhalten, ohne diesen zu deklarieren. Die staatlichen Reaktionen auf den "Staatsfeind Nr. 1" waren entsprechend gekennzeichnet von "Überreaktion". Die führte zu einer Militarisierung der Innenpolitik, zu einer Eskalation staatlicher Gewalt und zu einer Vereisung des gesellschaftlichen Klimas.

Waren die RAF-Interventionen vielleicht nur ein Vorwand für die neuen Gesetze?

Die meisten Gesetze der genannten Art hätte es wohl ohne die RAF oder die Bewegung 2. Juni nicht gegeben. Es sind typische "Anti-Terror"-Gesetze, teilweise handelt es sich sogar eindeutig um eine "lex RAF". Doch diese staatsautoritäre Entwicklung im Zuge der "Terrorismusbekämpfung" baute auf einer bereits länger andauernden staatlichen "Aufrüstung" nach innen auf, die schon Ende der sechziger Jahre eingeleitet worden ist, als von "Terrorismus" noch kaum die Rede sein konnte. Polizei und Geheimdienste wurden personell, finanziell und technologisch immens ausgebaut. Das gesamte Sicherheitssystem wurde einem tiefgreifenden, bis heute fortgeführten Strukturwandel unterzogen. Dazu gehört die Spezialisierung der Polizeifunktionen mit einer Spannbreite von der "Anti-Terror"-Spezialeinheit GSG 9 bis zu Kontaktbereichsbeamten und Jugendpolizisten. Zur klassisch-repressiven Polizeiaufgabe der Strafverfolgung und zur Abwehr konkreter Gefahren gesellte sich in der Praxis ein neues, fast uferloses polizeiliches Aufgabenfeld: die "vorbeugende Verbrechensbekämpfung". Dies führte zu einer weiteren Vorverlagerung des Staatsschutzes. Überspitzt formuliert: Der Ausnahmezustand wird in dieser Sicherheitskonzeption zum Normalzustand, die staatliche Sicherheit zum Supergrundrecht und die BürgerInnen mutieren zu potentiellen Sicherheitsrisiken.

Dieser strukturelle Wandel führte letztlich zu einem enormen, ganz alltäglichen staatlichen Machtzuwachs und zu einer ebenso alltäglichen Erosion der Grund- und Freiheitsrechte.

Wieso kommt die Initiative gegen die Sondergesetze gerade zum 20. Jahrestag der Schleyer-Entführung und der Todesnacht von Stammheim?

Die linksorientierten Strafverteidigervereinigungen, der Republikanische Anwaltsverein und die Vereinigung Demokratischer Juristen haben ihre Forderungen nach ersatzloser Streichung der Sondergesetze unter das Motto gestellt: "20 Jahre Deutscher Herbst sind genug." Das ist sicher legitim - auch wenn 20 Jahre Deutscher Herbst eigentlich zuviel sind. Aber erst einmal ist jeder Zeitpunkt recht, die Aufhebung dieser Gesetze zu fordern.

Die Initiative kann ja angesichts des politischen Kräfteverhältnisses nur Erfolg haben, wenn die politischen Entscheidungsträger einlenken. Das werden sie höchstens tun, wenn sie keine bewaffnete Eskalation fürchten müssen. Ist das der Grund für den Zeitpunkt der Kampagne?

Sicher sind für solche Forderungen verhältnismäßig "ruhige" Zeiten besser geeignet, als solche, in denen der bewaffnete Kampf noch zuschlägt. Vergebliche Versuche, diese Gesetze zu Fall zu bringen, gab es in der Vergangenheit des öfteren, unter anderem von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS im Bundestag.

Hat die Initiative denn jetzt eine Chance?

In der gegenwärtigen bundespolitischen Situation sehe ich wenig Spielraum für eine umfassende Bereinigung des politischen Strafrechts. Die aktuellen Signale des Bundesjustizministers Schmidt-Jortzig geben hierfür auch nichts her, allenfalls zeigen sie eine gewisse Bereitschaft zur Streichung oder Umformulierung des einen oder anderen Paragraphen - etwa des Kontaktsperregesetzes, das von Schmidt-Jortzig als "nicht mehr nötig" bezeichnet wird.

Wäre bei einem Machtwechsel in Bonn zugunsten von Rot-Grün mehr zu erwarten?

Hoffnung auf eine umfassende Reform, wie sie benötigt wird, könnte tatsächlich erst mit einem Machtwechsel in Bonn aufkeimen. Ob der grüne Part einer möglichen rot-grünen Regierungskoalition allerdings stark genug sein wird, eine solche Reform gegen die SPD durchzusetzen, die uns diese Sondergesetze ja weitgehend eingebrockt hat, wird sich erst zeigen müssen. Die SPD ist jedenfalls - das lehrt die Geschichte - wahrlich kein Garant für eine bürgerrechtsfreundliche Politik.

In der Tat geht die gegenwärtige innenpolitische Debatte in eine ganz andere Richtung.

In der anhaltenden Debatte um die sogenannte Innere Sicherheit, bei der von interessierter Seite schamlos politische Dramatisierung betrieben wird, geraten selbst bislang als (links-)liberal geltende Kräfte und ehedem staatskritische Geister immer stärker unter Druck. Sie scheinen zunehmend bereit, bürgerrechtliche und liberal-rechtsstaatliche Positionen im Kampf gegen die "neuen Bedrohungen" zu räumen. Seit der deutschen Wiedervereinigung sind die alten "inneren (Staats-)Feinde" abhanden gekommen. Waren es früher die Kommunisten, später die "Linksextremisten" und "Terroristen", so sind es heute vor allem "organisierte Kriminelle", "kriminelle Ausländer", "rechte Gewalt" und Jugendgewalt. Sie dienen heute als publikumswirksame Legitimationen für staatliche Nachrüstungsmaßnahmen, wie erweiterte Polizeibefugnisse, Geheimdienst-Expansion und Strafrechtsverschärfungen, für die Legalisierung von Verdeckten Ermittlern, des Großen Lauschangriffs, beschleunigter Strafverfahren und erleichterter Abschiebung von AusländerInnen. An die Ursachen von Kriminalität und Gewalt denkt da kein Mensch mehr.

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater. Er ist seit über einem Vierteljahrhundert unter geheimdienstlicher Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz