Vertun

Wenn im Büro viel zu tun ist, wie gerade jetzt zu Beginn des Semesters, gerate ich schnell mal ins Schwimmen. Hans-Hermann, der mir am Schreibtisch gegenübersitzt, behauptet, ich habe gerade was von "Gebührentatbeständen" gefaselt. Na und? Wer sagt denn, daß es sowas nicht gibt?

Zu Hause habe ich dummerweise beschlossen, den Frühjahrsputz nachzuholen, und bin gerade beim Fensterputzen, als es klingelt. Susi. Susi wohnt zwei Stockwerke über mir und hat ein Alkoholproblem, wie es heute heißt. Sie säuft also. Und kommt ab und zu vorbei, um zu telefonieren ("Ich möcht' ma 'ne Bestellung aufgehm: Acht Budweiser und ...") oder um sich einen Heiermann oder einen Schein zu borgen "bis Donnerstag". Donnerstags gibt es Sozi. Das Geld kriege ich meistens zurück, aber nie donnerstags und nie in der gleichen Woche. "Du bist doch meine beste Freundin, hehe", sagt Susi, und lehnt schon einigermaßen breit im Türrahmen, "kannst du mir ma 'n Pfund leihen?" Ein Pfund sind zwanzig Mark. Ich seufze, suche einen Schein heraus, gebe ihn ihr und sage: "Dann bis Donnerstag - oder?" - "Klar", sagt sie, "ey - warte ma - das war aber jetzt mein Part." - "Oh, tut mir leid, Tschulligung." Wenn man im Vollstreß ist , kann man sich leicht mal im standardisierten Smalltalk vertun.

Meine Tante vertut sich auch öfter, weil sie auch immer im Streß ist, allerdings weiß niemand, wieso. Wenn ich sie besuche, bin ich gleich wieder zwölf. Als wir gemeinsam zum soundsovielten Jubiläum des örtlichen Gesangvereins gingen und ich mir vor dem Festsaal eine Tüte Pommes kaufen wollte, fing sie an in ihrem Portemonnaie herumzukramen und drückte mir zwei Mark in die Hand. Ich mußte das Geld nehmen. Bei meinem letzten Besuch hatte ich einmal versucht, in einem Restaurant unsere Zeche zu bezahlen, da hat sie beinahe den ganzen Laden zusammengeschlagen.

Das wollte ich jetzt eigentlich gar nicht erzählen. Was ich erzählen wollte, war, wie die Tante Witze erzählt. Sie vergißt immer die Hälfte. Zum Beispiel geht ein Witz original so: Kommt 'ne Frau zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, ich hab 'nen Knoten in der Brust." Sagt der Arzt: "Wer macht denn sowas!" Das ist ja ein bißchen frauenfeindlich oder was. Die Tantenversion geht aber anders: Kommt 'ne Frau zum Arzt. Sagt der Arzt: "Wer macht denn sowas!" - Das ist jetzt eher ärztefeindlich, macht aber nichts, denn gut erzählt ist halb gewonnen, wie ich immer sage.