Zwischen Kapital und Kirche

Polen hat gewählt, und die rechten Wahlsieger haben Probleme, eine Koalition zu bilden

Auf den ersten Blick scheint alles sehr einfach: Polen hat gewählt, und die Rechte hat gewonnen: Die rechtskonservative Wahlaktion Solidarnosc (AWS) wurde bei der Parlamentswahl am 21. September mit 33,8 Prozent der abgegebenen Wahlstimmen eindeutig stärkste Partei. Mit 201 der 460 Mandate im polnischen Unterhaus (Sejm) wird die AWS zukünftig das Gros der Sejm-Abgeordneten stellen; hinzu kommt noch die absolute Mehrheit im Senat. Und doch steht die AWS, dieses selbsternannte "Sammelbecken aller wahren Patrioten", nach gewonnener Wahl vor ihrer ersten Zerreißprobe. Es gilt, einen oder mehrere geeignete Koalitionspartner zu finden, um die politische Macht teilweise oder ganz zu übernehmen.

Marian Krzaklewski, Parteiführer und künftiger Fraktionsvorsitzender der AWS, hat nun sowohl die unterschiedlichen Vorstellungen der - aus drei Dutzend katholischen, nationalistischen und konservativen Gruppen und Organisationen zusammengesetzten - Wahlaktion zu sondieren als auch erste Koalitionsgespräche mit den anderen im Sejm vertretenen Parteien zu führen. Einigkeit zwischen Krzaklewski - der sich von Freunden "Duce" nennen läßt und auch schon mal Jesus zum "König Polens" ausrufen wollte, was selbst dem reaktionären polnischen Episkopat zu weit ging - und dem Rest der AWS besteht nur darüber, daß die bisher regierende postkommunistische SLD (von Krzaklewski als "Schacherer und Bolschewiki" bezeichnet) als Mehrheitsbeschaffer nicht in Frage kommt.

Als Koalitionspartner bieten sich an:

* Die Liberale Freiheitsunion (UW), die 60 Sitze erringen konnte und programmatisch auf wirtschaftsliberale Konzepte setzt. Die UW wird häufig als "Premierspartei" verspottet, da in ihr die ehemaligen Ministerpräsidenten Hanna Suchocka und Tadeusz Mazowiecki sowie der ehemalige Finanzminister Leszek Balcerowicz, der in den frühen neunziger Jahren Polen einem wirtschaftlichen Schockprogramm unterzog, organisiert sind. Mit den Wahlslogans "Nicht links, nicht rechts, immer geradeaus" und "Kluge Wahl, besseres Leben", hatte die UW schon im Wahlkampf vermieden, sich auf einen Koalitionspartner festzulegen. Als neue und erneuerte dritte Kraft wolle man Polen "auf gemäßigtem Kurs" in den Wohlstand führen, verkündete Balcerowicz, nachdem sechs führende Parteimitglieder im Januar dieses Jahres die Partei in Richtung AWS verlassen hatten: "Eine Mission zum Wohle des Vaterlands" sei nun zu erfüllen.

* Die Bauernpartei (PSL), zuletzt Koalitionspartei der abgewählten Linksregierung, nunmehr mit 27 Sitzen im neuen Sejm vertreten. Die Partei hat fast hundert Sitze verloren, will aber unbedingt an der Macht bleiben. Am liebsten als "Achse einer fortschrittlichen Regierung, nach allen Seiten offen wie eine alte Scheune", wie Julian Bartosz, polnischer Historiker und freier Journalist, das Selbstverständnis der PSL bereits im Juni treffend beschrieb.

* Die rechtsextremistische Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP) mit sechs Sitzen im Sejm. Programmatisch ist sie kaum vom Wahlbündnis Solidarnosc zu unterscheiden. Sie setzt, genau wie die AWS, auf "Gottesfürchtigkeit, Patriotismus, Familiensinn", das heißt auf Populismus und Nationalismus, braucht allerdings keine Rücksicht auf gemäßigtere Strömungen und das Renommee im Ausland zu nehmen. Jan Olszewski (auch ein ehemaliger Regierungschef Polens) versucht sich seit 1995 als einziger "Bewahrer des wahren Polen" zu profilieren; aus seiner Abneigung gegen Lech Walesa macht er aber auch kein Geheimnis.

* Alle zuvor genannten Parteien zusammen: Denn nur mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit kann gemäß der am 20. Oktober in Kraft tretenden Verfassung ein mögliches Veto des seit 1995 amtierenden Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski gegen Gesetzesvorlagen der Regierung überstimmt werden. Doch gegen diese Lösung regt sich Widerstand von allen Seiten: Ein Teil der AWS will nicht mit der ehemaligen kommunistischen Blockpartei PSL, diese wiederum macht - ebenso wie die ROP - Vorbehalte gegen die UW geltend.

* Gerade im Bereich der Wirtschaftspolitik scheinen ohnehin die geringsten Differenzen zwischen den Liberalen und der ehemaligen Regierungspartei SLD zu bestehen. Der landwirtschaftliche Protektionismus der Bauernpartei und der von der Gewerkschaft Solidarnosc geforderten stärkeren Subventionierung von mittleren und Großbetrieben stehen die Privatisierungsabsichten der UW fast diametral entgegen. "Allerdings ist die Öffnung Polens zu weit fortgeschritten, als daß eine neue Regierung allzuviel Porzellan zerschlagen dürfte, zumal die Grundausrichtung kaum mehr umstritten ist", relativierte die Neue Zürcher Zeitung bereits am 20. September die Bedeutung der Wahl für den sich seit 1990 vollziehenden ökonomischen Strukturwandel Polens. Einschneidender werden Veränderungen in den Bereichen der Innen-, Familien- und Justizpolitik sein, die sich jedoch an der neuen, liberaleren Verfassung ausrichten müssen.

* Außer der Bauernpartei - und natürlich der SLD, die 1991 aus der kommunistischen Arbeiterpartei PVAP und einigen Blockparteien hervorgegangen und seit 1993 an der Macht war - stehen alle im Sejm vertretenen Parteien in einer direkten oder indirekten Linie zur 1989 am sogenannten runden Tisch re-legalisierten Gewerkschaft Solidarnosc. Genauer: zu deren Funktionärsebene.

* Die ROP beruft sich auf deren "wahre polnische" Tradition, die UWS entstand aus einem Flügel liberaler Intellektueller dieser Gewerkschaft, AWS-Chef Marian Krzaklewski ist seit 1991 Nachfolger Lech Walesas als Chef der Solidarnosc. Auch wenn die Wahlaktion Solidarnosc in den nächsten Wochen in eine christdemokratische Partei namens "Ruch spoleczny - AWS" (soziale Bewegung) übergehen wird, führt kein Weg an der Gewerkschaft vorbei. Die Hälfte aller AWS-Vorstandssitze wurde Gewerkschaftsfunktionären zugesagt, Entscheidungen in der Partei müssen mit einer Mehrheit von 75 Prozent getroffen werden, so daß ohne Solidarnosc in der AWS nichts geht.

* Noch etwa 700 000 Mitglieder (von ehedem zehn Millionen) sind zur Zeit in der 1980 gegründeten "Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarnosc" organisiert. Dabei setzt sich Solidarnosc nur für "die Opfer der Kommune" und weitere angebliche Opfer der "Post-Kommune" genannten Sozialdemokraten und deren Basis, der Gesamtpolnischen Verständigung der Gewerkschaften (OPZZ), nicht aber für die Opfer aller Ausbeutungssysteme ein. Nach 1989/90 aus dem Budget des Arbeitsministeriums reichlich für die von Ende 1981 bis 1989 währende Illegalisierung entschädigt, verfügt Solidarnosc über sehr gute finanzielle Mittel und eine tiefe Verankerung im industriellen Sektor. "Solidarnosc als Gewerkschaft (...) versteht sich als Gralshüterin der nationalen und christlichen Werte und bildet somit einen großen Vaterlandsverein", charakterisierte Julian Bartosz in der Zeitschrift Ost-West-Gegeninformationen (Ausgabe 2/96) die soziale Funktion von Solidarnosc.

* Genau auf diesem Terrain hat die polnische Rechte die Wahl gewonnen: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS von 1995 sind 96 Prozent aller Polen auf die "überlieferten Werte des Polentums" "sehr stolz" bis "eher stolz". Mit nationalistischen Parolen und einem populistischen Programm (Steuererleichterungen für Eltern und Rentner, Schutz der Bauern vor "unehrlicher Konkurrenz" etc.) wurden fehlende Aussagen zu Armut - von der etwa 30 Prozent der polnischen Bevölkerung betroffen sind - und rapide wachsender sozialer Ungleichheit überdeckt. Die offizielle Arbeitslosenquote in Polen lag 1996 bei 13,2 Prozent, etwa ein Drittel aller Polen muß durch Schwarzarbeit dazuverdienen, um zumindest über den Mindestlohn von 350 polnische Zloty (PLZ, ca. 110 US-Dollar) zu kommen. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 1996 bei etwa 370 PLZ.

* Schon seit Anfang der achtziger Jahre unterliegt Polen den Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, ab 1990 wurden diese in ihrem ganzen Ausmaß wirksam: Die Hälfte der mittlerweile privatisierten Staatsbetriebe ging an US-amerikanische, deutsche, italienische und schwedische Investorengruppen, ca. 80 Prozent aller Medien wurden von Deutschen übernommen. Die BRD ist seit 1990 wichtigster Handelspartner Polens.

* Trotz der Umschuldungsabkommen und Schuldenerlasse des Pariser und Londoner Clubs, der 1996 erfolgten Aufnahme Polens in die OECD und der seit Juli ausgesprochenen Einladung zu Beitrittsverhandlungen mit der EU und der Nato stehen weiterhin große Veränderungen in Polen an. Die Landwirtschaft mit etwa 3,5 Millionen Beschäftigten ist nicht ohne weiteres in die EU integrierbar, dasselbe gilt für den hochsubventionierten Bergbau.

* Der Wandel vom Realsozialismus zum Kapitalismus hat, so Bartosz, zu einer "Einviertelgesellschaft" geführt. Die alten Seilschaften aus dem Funktionärsapparat der Solidarnosc, aber auch aus der politischen Klasse des realsozialistischen Regimes haben sich 1989 am runden Tisch die Pfründe gesichert. Schon die letzte realsozialistische Regierung unter Premier Rakowski (1988-1989) leistete die Vorarbeit für diesen "Strukturwandel im zivilisatorischen Bereich" (Intenzbrief an die Weltbank): "Gute Hotels und Restaurants, bessere Hauptverbindungsstraßen nach Warschau, moderne Fernsprechmöglichkeiten, legaler Umtausch von Westwährungen in Zloty, Zollerleichterungen, Gesetzesänderungen für Firmen mit fremdem Kapital, Reform des Bankenwesens usw. (...) Die Herrschaften aus dem Westen sollten es bequem haben", beschrieb Julian Bartosz bereits 1995 die letzte Vorstufe der Entwicklung des von ihm so bezeichneten polnischen "Lumpenkapitalismus".

Wie fast jede Wahl hatte aber auch diese ihr Gutes: Die sogenannte deutsche Minderheit in Polen, für die die Fünf-Prozent-Hürde nicht gilt, verlor zwei Sitze im Sejm, flog aus dem Senat und wird künftig nicht als "nationale Minderheit" anerkannt, wie das Appellationsgericht in Katowice am 25. September entschied.