Wer gewinnt wen?

Vor 20 Jahren wollte die CDU die marxistisch-leninistischen Gruppen verbieten

Vor 20 Jahren, am 8. Oktober 1977 demonstrierten, trotz massiver Polizeiangriffe auf die anreisenden Teilnehmer, etwa 20 000 Aktivisten und Aktivistinnen westdeutscher kommunistischer Gruppen und Parteien in Bonn gegen die Absicht des CDU-Bundesvorstandes, beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands (KBW), der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) zu beantragen. Mitten im "Deutschen Herbst" wollte die CDU, so schrieb damals zustimmend die Frankfurter Neue Presse, mit diesem Vorstoß "die im Zusammenhang mit den Terroristenverbrechen zu verzeichnenden Aversionen gegen alles Linksextremistische ausnutzen". Eine Woche zuvor war das Gesetz zur Kontaktsperre in Kraft getreten und zehn Tage später ging die Meldung vom "Selbstmord" dreier RAF-Gefangener durch die Medien.

Nach der RAF stellten die sogenannten ML-Gruppen (von Außenstehenden meistens als K-Gruppen bezeichnet) damals für die Staatsorgane die gefährlichste Bedrohung der "inneren Sicherheit" dar. Hans-Josef Horchem, seinerzeit Präsident des Amtes für Verfassungsschutz und aus taktischen Überlegungen ein Gegner des Verbots, bekräftigte diese Einschätzung noch einmal nach der Bonner Demonstration in der ARD-Sendung "Report": "Heute haben wir vier Organisationen von jeweils drei- bis viertausend Mitgliedern und Anhängern. Wenn sie verboten werden, haben wir möglicherweise einen Block von zwölf- bis fünfzehntausend zu allem entschlossenen Revolutionären."

So drehte sich dann auch die öffentliche Erörterung über die Zweckmäßigkeit einer Illegalisierung der Marxisten-Leninisten, um die Frage, ob ein Verbot die Unterdrückungsabsicht nicht erschweren würde, zumal die betroffenen Gruppen erklärt hatten, auch danach weitermachen zu wollen. In diesem Sinn demonstrierten sie auch in Bonn unter der Losung: "Der Marxismus-Leninismus läßt sich nicht verbieten." Politiker und Medien waren sich einerseits einig, daß es sich bei den ML-Gruppen um "kriminelle Vereinigungen" handelte (Niedersachsens Regierungschef Ernst Albrecht), um eine, wie sich an den Demonstrationen gegen das AKW Brokdorf gezeigt habe, "kleine Bürgerkriegsarmee" (Die Welt), deren "ungenierte Anwesenheit auf das Volk Eindruck mache" (FAZ) und die in der Lage sei, "politische Konflikte zu verschärfen" (Die Zeit). Andererseits würde eine Zerschlagung ihrer "Logistik, ihrer Verlage, Druckereien, Häuser, Bankkonten, Transportausrüstungen, Kurierdienste und Funkgeräte" (Süddeutsche Zeitung) das "Sympathisantentum" (RCDS) mobilisieren und die Mitglieder "in den Untergrund treiben" (Süddeutsche Zeitung), wo sie "schwer unter Beobachtung zu halten" (FAZ) seien.

Tatsächlich spielten die Mitglieder der ML-Gruppen nicht nur bei den Anti-AKW-Demonstrationen in Grohnde, Kalkar, Gorleben und Brokdorf eine wichtige Rolle, sondern sie waren auch in den meisten größeren Industriebetrieben präsent, wo ihre Agitation bei Streiks und anderen Aktionen von Unternehmensleitungen und Gewerkschaften durchaus als politischer Faktor ernst genommen wurde. Nach dem Ende der Studentenbewegung von 1968 war die ML-Bewegung neben der DKP immerhin die stärkste Strömung der westdeutschen Linken. In den etwa 12 Jahren ihrer Existenz als Bewegung dürften an die 100 000 Personen die verschiedenen Gruppen durchlaufen haben. Von manchen ihrer Wochenzeitungen, etwa der Kommunistischen Volkszeitung des KBW, wurden wöchentlich bis zu 40 000 Exemplare verkauft. Im Unterschied etwa zur Studentenbewegung, zur RAF oder zu den Autonomen, ist jedoch bis heute keinerlei kulturindustriell produzierter Mythos um diese Bewegung entstanden. Die Sache der ML-Gruppen war zu streng, zu "dogmatisch" und zu sehr mit der realen Weltpolitik verknüpft. Für die, die dabei waren, wirft sie auch heute noch keinen symbolischen Mehrwert ab, so wie etwa die Trademark-Chiffren "68er", "Che", "Metropolen-Guerilla" oder "Schwarzer Block". Die Geschichte der ML-Bewegung ist auf diese Weise nicht erzählbar, weil sie unvermeidlich in die politisch-ideologischen Details mündet. Das zeigte sich auch, als die Zeitschrift Focus kürzlich eine zweiteilige Serie über die K-Gruppen brachte, die die ML-Vergangenheit diverser Politiker der Grünen denunzieren sollte: Wenn es um das politische Programm der damaligen ML-Gruppen geht - Aufhebung des Parteieigentums durch die soziale Revolution, Ablösung der Warenproduktion durch unmittelbare gesellschaftliche Produktion von Gebrauchsgütern, Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen - , gruselt es die Zeitungsmacher auch noch heute vor dem Gespenst des Kommunismus.

Im "Deutschen Herbst" gerieten die Mitglieder der bundesweit organisierten, wie auch die der nur in einzelnen Städten existierenden kleineren ML-Gruppen (KG Bochum/Essen, die hessische Gruppe Revolutionärer Weg u. a.) weitaus mehr unter Druck, als andere legale linke Strömungen. Mit Hammer, Sichel und Gewehr verzierte Flugblätter, in denen man sich vom "Individualismus" der RAF mit dem Slogan: "Nur der Griff der Massen zum Gewehr, schafft den Sozialismus her" distanzierte, kamen nicht nur bei den Staatsorganen, sondern auch bei Belegschaften nicht gut an, die gerade von Unternehmern und Betriebsräten zu Trauerfeierlichkeiten für Hans- Martin Schleyer mobilisiert wurden und die von den Straßenkontrollen schwerbewaffneter Polizeieinheiten mächtig beeindruckt waren.

Sechs bis acht Monate Haft ohne Bewährung für ML-Aktivisten, die öffentlich "das Abschießen einzelner Bourgeois, Staatsanwälte und anderer Reaktionäre" für einen taktischen Fehler hielten, der den für notwendig erachteten "bewaffneten Aufstand des Proletariats" nur verzögern könne, waren das Übliche. Auch Stammheim-Plakate mit dem Aufdruck "So oder so, Mord und KZ-Methoden sind das" (KBW) erweiterten nicht gerade die angestrebte Massenbasis.

So blieb die Ankündigung des Verbots, auch wenn es aus Gründen der "Zweckmäßigkeit" (Westdeutsche Allgemeine) dann doch nicht vollzogen wurde, nicht ohne Wirkung: Zum einen kam die nach der Bonner Demonstration von vielen erhoffte schrittweise Vereinigung aller ML-Gruppen nicht zustande, zum anderen wirkte die im Marxismus-Leninismus ohnehin schon angelegte Tendenz, das "Volk" zwar für agitationsbedürftig, aber prinzipiell für gut zu halten, dahin, daß man der chauvinistischen GSG 9-Begeisterung der "Massen" immer neue Konzessionen machte.

Konnten die ML-Gruppen sich vorher noch als radikalste Strömung innerhalb eines größeren linken Milieus verstehen, so standen sie plötzlich ziemlich alleine da mit ihrer Losung von der Abschaffung des bürgerlichen Eigentums und dem dazu notwendigen revolutionären Umsturz. Antiautoritäre und sozialistische Gruppen kapitulierten damals überraschend schnell vor der staatlichen Repression, distanzierten sich wortreich von "der Gewalt" und suchten Schutz bei diversen linksbürgerlichen "Bündnispartnern" (Heinrich Böll, Günther Walraff, Hans Magnus Enzensberger etc.), die den Staat mit Unterwerfungsgesten ("wir haben zum Terrorismus zu lange geschwiegen") zur Mäßigung überreden wollten.

In der Hoffnung, ihre Isolierung zu durchbrechen, beschworen nun auch einige ML-Gruppen die Gefahr eines "neuen 33". Politische Kräfte, die lediglich gegen ein Verbot waren, weil sie eine staatliche Observation für effektiver hielten, lud man plötzlich zur "antifaschistischen Einheitsfront". Besonders jene ML-Gruppen, die vorher schon sozialpatriotische Töne angeschlagen hatten oder sich ganz umstandslos als Anwälte der ja durchaus affirmativen "Interessen des Proletariats" verstanden (KPD, KPD/ML, KABD), kippten vollends um.

Als nach dem 19. Oktober 1977, dem Tag, an dem Schleyer gefunden worden war, "die Stunde der Fahndung" (Regierungssprecher Bölling) einsetzte, als Wohnviertel und sogar die Zufahrtsstraßen zum Wolfsburger VW-Werk abgeriegelt wurden, da brachten auch immer mehr ML-Gruppen Arbeiterorientierung, Verbalradikalismus, bürgerlichen Antifaschismus und Opportunismus auf einen einfachen Nenner: "Bonn braucht den Terror der RAF." Zwar war der Duktus noch linksradikal ("Wir sind für revolutionäre Gewalt") und die "Selbstmorde" von Stammheim wurden weiterhin mit dem "Auf der Flucht erschossen"-Zynismus der Nazis verglichen, aber letztlich wurde das "Gangsterstück der Luftpiraten" (KPD/ML) als vom Staat inszenierte oder begünstigte Provokation eingeordnet, die von den "Sorgen und Nöten der Arbeiter" (KABD) ablenken und diese letztlich durch Einschränkung der Meinungs- und Bewegungsfreiheit unterdrücken soll.

Wo das revolutionäre Subjekt schon mal mit Streik drohte, um die Entlassung eines türkischen Arbeiters zu erzwingen, der sich abfällig über Schleyer geäußert hatte (bei der Firma Käßbohrer in Ulm) und Flugblattverteiler vor Betrieben tätlich angegriffen wurden, setzt sich in immer mehr ML-Gruppen ein mehr oder weniger offenes Treuebekenntnis zum bürgerlichen Staat und zur Volksgemeinschaft durch - bei den einen, indem sie nun die "demokratischen Rechte" gegen den "Faschismus" verteidigten, bei den anderen, indem sie die "schießwütigen Terroristen" als "reicher Leute Kinder" bezeichneten, die sich gegen die "Massen" stellen. Ein Jahr später war ein Teil der Marxisten-Leninisten schon unterwegs zur "radikaldemokratischen Opposition" der Grünen.

Die Gegner dieses Trends konnten sich bis etwa 1981 noch einmal sammeln, scheiterten dann jedoch an den theoretischen Unzulänglichkeiten jenes Marxismus-Verständnisses, wie es sich Ende der fünfziger Jahre im internationalen Streit um die "Generallinie" der kommunistischen Bewegung herausgebildet hatte.