»I am the white ring«

Thilo Thielkes Biographie des tragischen Fußballhelden Reinhard "Stan" Libuda

Wenn ein eher mittelmäßiger Bundesligaspieler wie Mehmet Scholl nur deswegen vom FC Bayern München verpflichtet wird, weil Tausende Mädchen kreischen, sobald der Teenie-Star die Bühne Olympiastadion betritt; wenn ein Ex-Versicherungskaufmann wie Franz Beckenbauer oder ein ehemaliger Raumausstatter wie Lothar Matthäus die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, die ihnen der Sport geboten hat, nutzen, um die Öffentlichkeit beinahe an jedem Spieltag via TV-Kamera über neueste Banalitäten zu unterrichten; wenn ein "neuer Spielertyp" wie Thomas Helmer routiniert Pressekonferenzen abzuhalten vermag und als Berufswunsch nach seiner aktiven Laufbahn angibt, junge Spieler in Medien- und Kommunikationstechnik ausbilden zu wollen, dann vergißt man leicht, daß der Fußball auch eine andere Dimension hat: seine Prägung durch Randfiguren. Der Fußball hat immer auch von den Außenseiter gelebt, die zwar auf dem Spielfeld brillierten, aber abseits der Stadien scheiterten.

Da gab es den ersten "Neger" der Bundesliga, Erwin Kostedde, der nach seiner aktiven Zeit abrutschte und später sogar mit einem Bankraub in Verbindung gebracht wurde. Vor allem aber war da einer der wahrscheinlich besten Rechtsaußen aller Zeiten: Reinhard "Stan"

Libuda. Ein stiller und schamhafter Mensch, der seine Schüchternheit erst verlor, wenn er mit dem Ball vor den Füßen die Linie entlanglief, um göttliche Flanken in den Strafraum zu heben, der außerhalb des Stadions aber von einer existentiellen Krise in die andere stolperte und damit zum tragischsten Held wurde, den der deutsche Fußball jemals hervorgebracht hat.

Ein Jahr nach dem frühen Tod Libudas am 25. August 1996 hat der Spiegel-Redakteur Thilo Thielke eine Biographie vorgelegt, die anekdotenreich ein Leben zwischen privater Zurückhaltung und öffentlicher Zurschaustellung, mit allen Erfolgen und Katastrophen nachzeichnet und so zur Tragikkomödie des "Spielers von der traurigen Gestalt" wird.

Reinhard Libuda wurde am 10. Oktober 1943 geboren und wuchs als Sohn eines Bergmanns in einer Zechensiedlung im Gelsenkirchener Stadtteil Haverkamp auf. Schon frühzeitig begeisterte der "Köttel", wie er in Gelsenkirchen wegen seiner schmächtigen Statur genannt wurde, die Kiebize auf den Plätzen der Jugendmannschaften. In der Schule fiel er weniger durch herausragende Leistungen auf als durch Fußballkenntnisse: "Ja, ja - unser Stan. Keine Leuchte, immer nur Fußball im Kopf", lachte sein Schuldirektor. Ein Lachen, das den schüchternen, nicht groß geratenen Libuda sein Leben lang begleiten sollte, auch wenn er bald darauf in die Jugendmannschaft von Schalke 04 eintrat und sich - nach einem Intermezzo als Schlosser auf Gelsenkirchens größter Zeche Consolidation - ganz auf den Fußball konzentrierte. Denn auf dem Rasen konnte er an einem guten Tag alles vergessen, und dort war er jemand: Als "Garrincha vom Schalker Markt" feierte ihn die Westdeutsche Allgemeine Zeitung nach seinen ersten Auftritten 1963.

Ein Raunen ging durchs Publikum, wenn der säbelbeinige Rechtsaußen loslegte - hier, an der Linie, hatte er seine Position gefunden, lauerte manchmal minutenlang darauf, daß er angespielt wurde, stoppte dann den Ball, um zu laufen, einfach nur, um zu laufen. Tänzelnd durch die Abwehrreihen - Reinhard Libuda verdiente sich den Namen "Stan", weil er den Matthews-Trick besser beherrschte als der Sir selbst: rechts antäuschen, über den Ball steigen und links am Verteidiger vorbei. "Ein größeres Talent hat Schalke nicht gesehen", meinte sein erster Trainer Fritz Thelen.

Doch leider gab es da die andere Seite: das wirkliche Leben, das Libuda immer schwer zu schaffen machte. Verheiratet mit seiner Jugendliebe Gisela, plagte Libuda die Eifersucht, da das "schönste Mädchen von Gelsenkirchen" gern unterwegs war. Und wenn es "zuhause" nicht stimmte, dann spielte Stan gar nicht gut, verfummelte sich, blieb in der Abwehr hängen und gab schnell auf, sobald der erste Pfiff von der Tribüne kam. Bei Auswärtsspielen hatte er nur Gisela und ihre Affären im Kopf, was seine Mitspieler bald nicht mehr nur still belächelten. Rudi Gutendorf, der zu Glanzzeiten der Schalker, Anfang der siebziger Jahre, Trainer in Gelsenkirchen war, erzählt, wie entsetzt er war über den Umgang der Spieler mit Libuda, die sich sich ständig über ihn lustig machten. Auch die Gegenspieler Libudas praktizierten, was man heute im Sport "dirty talking" nennt: Verteidiger Otto Rehhagel wußte, wenn es gegen Schalke und Libuda ging, mußte er nur zu Spielbeginn über dessen Frau reden - und das Spiel war gelaufen.

Gutendorf versuchte, Libuda in langen Gesprächen Sicherheit zu geben, was dem damals vielleicht besten deutschen Trainer zumindest zeitweise gelang - bis die nächste Katastrophe eintrat. Und Libuda zog das Unheil an: sei's ein dummer Autounfall; sei's eine Anzeige wegen Notzucht, die eine Nacht im Gefängnis zur Folge hatte, bevor ihm jemand helfen konnte; sei's das "unerlaubte Entfernen von der Truppe" während seiner Zeit bei einer Bundeswehrsportkompanie, wo er auch Erwin Kostedde kennenlernte, mit dem er sich sehr gut verstand.

Diese Verstrickung privaten Unglücks und sportlicher Unbeständigkeit schildert Thielke bravourös. Nebenbei entsteht eine kleine Kulturgeschichte des Ruhrgebiet-Fußballs in den sechziger Jahren. Wunderbar dargestellt werden die Vereine Schalke 04 und Borussia Dortmund - wohin Libuda kurzzeitig wechselte, um mit seinem legendären Tor zum 2:1 gegen den FC Liverpool im Glasgower Hamden Park der Borussia als erster deutscher Mannschaft den Europapokal der Pokalsieger zu sichern. Kleinintrigen, Eifersüchteleien, Kompetenzgerangel, Schmierentheater, Lügen und ein unglaublich begeisterungsfähiges Publikum, das einen sich verändernden, weil professioneller werdenden Sport erlebt.

Thielke schildert darüber hinaus Libudas Erfolge in der Nationalmannschaft und mit seinem Auftitt bei der Weltmeisterschaft in Mexiko 1970 den Höhepunkt der Karriere. Plötzlich ist der Junge aus Haverkamp weltbekannt und gilt neben dem Brasilianer Jairzinho als bester Rechtsaußen der Welt: "Diesen Mann kann man nur mit einer Flinte erlegen", meinte der bulgarischen Trainer nach der Niederlage seiner Mannschaft. Doch mit dem Erfolg in Mexiko kehrte auch die große Schüchternheit zurück, die an die Schamhaftigkeit

Kafkascher Romanhelden erinnert. Er schleicht durchs deutsche Trainingslager und weicht den Journalisten aus, um bloß keine Interviews zu geben: "Bei der Nationalmannschaft kann ich doch nicht 'wat' und 'dat' sagen." Er kann sich noch immer nicht artikulieren, auch wenn sein Trainer Gutendorf rührende Versuche unternimmt, ihn öffentlichkeitstauglich zu machen. Vor einem Europapokalspiel gegen die Shamrock Rovers läßt Gutendorf jeden Spieler wenigstens einen Satz lernen, damit dieser auf die abgesprochenen Fragen des irischen Reporters antworten kann. Libuda muß den Satz aufsagen: "I am the right wing" (Ich bin auf dem rechten Flügel), verhaspelt sich aber im Interview und antwortet: "I am the white ring" (Ich bin der weiße Ring).

Der Abstieg begann mit dem Bundesligaskandal 1971. Auch Libuda wird durch - gelinde gesagt - eigene Dummheit in Schiebereien verwickelt. Er nimmt Geld, schwört einen Meineid und spielt nur noch schlecht. Jetzt rufen die Zuschauer in der Glückauf-Kampfbahn nicht mehr "LI-BU-DA", sondern pfeifen ihn aus. Er wird an Racing Straßburg verkauft, wo die Sperre durch den DFB sein Karrierende einläutet.

Libuda war schlecht vorbereitet auf die Zeit nach dem Fußball, er konnte einfach nichts anderes als spielen. So mußte er denn auch große finanzielle Verluste hinnehmen und stand bald vor dem Ruin, als ihm der Tabakladen am Schalker Markt angeboten wurde, den er vom Schalker "Denkmal" Ernst Kuzorra pachtete. Ausgestellt auf 16 Quadratmetern, verkaufte er Zigaretten und Eintrittskarten für die Bundesligaspiele. Erst kamen sie alle, um den großen Stan zu sehen, aber bald blieben auch die Fans aus. Libuda flüchtete in seine Haverkamper Stammkneipe, bis auch der Kiosk weiterverpachtet werden mußte. Gisela, die sich ein anderes Leben vorgestellt hatte, trug bei einer Auseinandersetzung mit ihm einen Nasenbeinbruch davon und ließ sich scheiden. Eine Zeitlang lebte Libuda bei seiner Mutter, die ihre Rente von 1 300 Mark mit dem Sohn teilte. Er ging kaum noch ins Stadion und wehrte verschämt alle Hilfsangebote ab. Der heutige Manager von Möchengladbach, Rolf Rüssmann, der am längsten Kontakt mit Libuda hatte, schlug ihm vor, ein Benefizspiel für ihn zu organisieren, doch Libuda lehnte ab. Ihm war es ein Greuel, sich als gealterter und kranker Star vorführen zu lassen. Noch einmal fand er Arbeit in der Papierveredlungsfabrik eines Schalke-Fans, über die seine Mutter berichtet: "Als er in der Druckerei vor einer Besuchergruppe auf den Knien einen Ölfleck wegwischen mußte, da sagte er zu mir: 'Ach Mama, damals, als ich die vielen Tore geschossen habe, wer hätte da ahnen können, daß ich einmal so da knien müßte ...'".

Gerade von einem Krebsleiden halbwegs erholt, starb Reinhard "Stan" Libuda im Alter von 52 Jahren an Herzversagen: "Er trug Turnschuhe, als er starb."

Thilo Thielke: "An Gott kommt keiner vorbeiÖ" Das Leben des Reinhard "Stan" Libuda. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1997, 240 S., DM 34