Der Kolporteur

Fünf Kinder hat das Ehepaar Giebler gezeugt, weiß der Henker warum, die jüngste ist drei, der älteste dreizehn. Frau Giebler versorgt den Haushalt, Herr Giebler ist Sachbearbeiter in Diepgens Staatskanzlei, die übliche Ehegeschichte also, die fünf Kids vielleicht sind heute eher ungewöhnlich. Familie Giebler hat vor einem Jahr noch in Wilmersdorf in einer Drei-Zimmerwohnung gewohnt. Man hat damals eine größere Bleibe gesucht, die Nachkommenschaft verlangte mehr Platz, doch die Mieten waren nicht bezahlbar, das Gehalt des Vaters hat nicht ausgereicht. So zog man aufs Land, quartierte sich in einem alten, heruntergekommenen Ostbauernhof in der Nähe von Buckow ein. Seitdem befindet sich die Familienstimmung auf dem Nullpunkt, der Vater ist nie da, übernachtet wochentags bei einem Freund in Berlin, er will seinen Job nicht verlieren, die gelangweilte und damit zu allem fähige Brut nervt die gestreßte Mutter.

Im Frühjahr beschließt Familie Giebler, daß ein gemeinsamer Urlaub an der Ostsee verbracht werden soll. Raus aus dem muffigen Bauernhof, hin zur luftigen See. Urlaub verbraucht Geld, viel Geld. Familie Giebler beantragt die notwendige Kohle beim Sozialamt und erhält tatsächlich einen Zuschuß von 1 634 Mark, allerdings mit der Bemerkung, dies sei eine Ausnahme, die Familie Giebler müsse sich angesichts der gespannten Haushaltslage überlegen, demnächst die Sommerferien auf dem eigenen Bauernhof zu verbringen.

Der Sommer kommt, es regnet fürchterlich, Familie Giebler bleibt daheim. Frau Giebler kauft von dem Sozialgeld zwei Fahrräder und einen Haufen Spiele, Tamagotchi und so. Der Rest wird für den Geburtstag von George, dem ältesten Sohn, aufgebraucht. Seine Freunde aus Berlin und die Kumpels aus der neuen Umgebung werden eingeladen. Ende Juli meldet sich das Sozialamt und verlangt eine Quittung über den Ostseesommerurlaub. Die gibt's natürlich nicht, und jetzt beginnt der Ärger. Das Geld sei zweckentfremdet worden, blök-blök-blök, der Betrag müsse sofort zurückgezahlt werden. Sagt das Sozialamt. 1 634 Mark. Sofort, das heißt innerhalb von zwei Wochen.

Herr Giebler schreibt seinem Gläubiger, daß er die geforderte Summe nicht aufbringen könne, er wundere sich aber über die Paragraphenreiterei, denn das Geld sei durchaus zweckgemäß für die Urlaubsgestaltung verwendet worden. Das Sozialamt kennt das Recht, aber keine Gnade. Zahlen oder pfänden, heißt es. Familie Giebler zahlt nicht. Einen Monat später steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür und nimmt das Klavier mit. Mitte September soll das Instrument zwangsversteigert werden. Amtsgericht Charlottenburg. Halb neun in der Frühe. Familie Giebler ist angereist, um dagegen zu protestieren, daß ihr Klavier, ein Erbstück, verhökert wird, weil das Sozialamt unsozial ist. Im Saal traut sich keiner, ein Angebot zu machen. Der Typ mit dem Hammer droht Herrn Giebler, der die Auktion mit Zwischenrufen unterbricht, mit dem Rausschmiß. Herr Giebler hält seinen Mund nicht, er muß gehen, Frau und Kinder trotten hinerher. Das Klavier wird versteigert. Ich frage den Gerichtsvollzieher, der sich gerade dann blicken läßt, aIs Familie Giebler das Amtsgericht verläßt, ob das, was er tagtäglich tue, nicht ziemlich beschissen sei, er antwortet im schmierigen Untergebenenton, auch die Familie Giebler müsse sich an die Regeln der Gemeinschaft halten, die Regeln habe er nicht erfunden, er mache nur seinen Job.